Schnee

Mein Thema für heute lautet: Mathematische Vernunft. Das ist, soweit ich sehe, etwas Neues. Worüber bisher unter der Klammer des Mathematischen nachgedacht wurde, ist überschaubar: mathematische Theorie, mathematische Fragen und Probleme, mathematische Sprache, mathematisches Denken, mathematische Logik. Habe ich vielleicht etwas vergessen? Mathematische Bücher? Das sind die, in denen die Theorie drin steht. Mathematische Krimis? „Die Entdeckung des Unendlichen“ (David Foster Wallace) oder „Fermats letzter Satz“ (Ian Stewart) gibt es, aber sie werden – noch?! – kaum gelesen. Bücher über Einstein und die Relativitätstheorie haben es da leichter. Gibt es mathematische Romane? Ich kenne nur einen: Leopold Infelds „Wen die Götter lieben“. Auch mathematische Erzählungen scheinen nicht viel zahlreicher zu sein. Aber immerhin existieren sie, im Deutschen etwa Hans Magnus Enzensbergers „Der Zahlenteufel“, im Russischen dagegen Sergej Bobrovs „Magisches Einhorn“ (sowie seine Zwillinge Zwei- und Dreihorn…)
Zieht man hier mit dem Prädikat der mathematischen Unterhaltungsliteratur eine Klammer, affirmiert man die unsinnige Meinung, Mathematik sei in erster Linie für Mathematiker da, was rein formal, wenn auch für die meisten Menschen schwer nachvollziehbar, zu der Folgebehauptung führt, Mathematik (als Gegenstand mathematischer Unterhaltungsliteratur) sei unterhaltend. Na ja, seit einigen Jahrzehnten bildet sich immerhin eine Art Wissenschaftsjournalismus heraus, der das diesbezügliche mathematische Problem erkannt zu haben scheint und – wenn auch in scheinbar infinitesimalen Schritten – an seiner Auflösung zu arbeiten begonnen hat. Aber: „Die Geschichte der Null“ (Robert Kaplan) ist noch im Gange, und „Die erstaunliche Geschichte des Paul Erdös“ (Paul Hoffman) ist wohl nach wie vor nicht mehr als erstaunlich. Was mehr aber könnte sie sein…
Mathematische Drehbücher? Erzählungen von Genie und Wahnsinn, alle irgendwie berührend, alle ähnlich.
Mathematische Themen? Eine Domäne für Ingenieure, SciFi-Autoren und ihr Fachpublikum.
Mathematische Gedichte? So etwas wie die sog. konkrete Poesie. Vielleicht sogar Neue Musik, hier fällt die Unterscheidung von Regel und Ausnahme. Gesetz und Abweichung. Abweichende Abweichung. Fortgesetztes Abweichen.
Endlich sind wir im Fahrwasser einer mathematischen Vernunft. Von mathematischen Scherzartikeln kann also im Folgenden abgesehen werden.
Vernunft also. Was macht sie zu einer mathematischen? Kann es überhaupt eine nichtmathematische geben? Hegels vielleicht, aber bei der fragt es sich nach wie vor, inwiefern sie denn nun tatsächlich eine ist.
Zweifelhafte Vernunft, das 20. Jahrhundert liegt seit knapp zwei Jahrzehnten hinter uns. Ein 21. aber gibt es noch nicht – seit fünfzehn Jahren, scheint es, befindet sich die Menschheit in einem Zustand permanent nachdunkelnder geistiger Umnachtung.
Kriege werden nicht mehr erklärt, nur noch geführt. Hauptsache, der Feind stirbt. Über Recht und dergleichen reden wir nach dem Endsieg.
Information wird mit einem aufwändigen Urheberrecht privilegiert, die gleichen Souveräne bedienen sich weltweit auf den privaten Rechnern, als wäre dort alles gratis.
Die Öffentlichkeit ist ebenso geheim wie in ihrer ganzen Banalität scheinbar geheimnisvoll. Sie ist zu einer öffentlichen Heimlichkeit geworden.
Und: die verdienstvollen Einzelnen, die alles das nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren konnten, werden als Schwerverbrecher gejagt und als Vaterlandsverräter gebrandmarkt.
Was ist mathematische Vernunft?

(Fortsetzung folgt)

J. W. Rosch
geb. 1967 in Charkiv, lebt in Frankfurt am Main. Gedichte, Prosa, Roman. Bisher bei LLV erschienen: Jokhang-Kreisel. Gedichte und kurze Prosa mit Zeichnungen von Anna H. Frauendorf (2003), Goðan Daginn. Gedichte. Mit Radierungen von Mechthild Mansel (2010).

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