Gewicht [2, 2]

Ich zitterte. Dieser Brief lag in meiner Hand wie ein ausgetrocknetes Stück Schwemmholz, Reste einstiger Größe im Gedächtnis des Windes, der alle dem Meer anvertrauten Gegenstände irgendwann an ein Ufer treibt, wenn das Meer sie aufzunehmen nicht bereit ist. Du warst vorige Woche nach dem Konzert in den Zug gestiegen, und die Enttäuschung, inständiges Bitten, doch zu bleiben und die im Ohr wild aufgestapelten Klänge gemeinsam in einem abgedunkelten Zimmer auf die Sanftheit einer verstehenden Bewegung hin zu befragen, muss mir beim Abschied unübersehbar im Gesicht gestanden haben. Warum warst du nicht geblieben?

Ich riss am Papier. Eine Karte kam zum Vorschein: Siebdruck oder Batikimitat? Ein bedrohliches schwarzes Gespinst, sich ineinander verschlingende dunkle Linien, die in einer nicht näher ausgezeichneten Mitte aufeinander trafen, wohl nicht um sich an einem Punkt zu treffen, sondern eher in Anbetracht der Landschaft mit all ihren Wegen, die allesamt den Weg des Wassers mieden. Wer hat schon gern nasse Füße?

Dein Opa sei am Wochenende gestorben. Die Zeilen, in denen dies mitgeteilt wurde, klangen unendlich traurig. War er jung – war er alt gewesen? Ich kannte ihn nicht, du hattest nie von ihm erzählt. Er muss dir sehr nahe gestanden haben, Worte in einem auf ziemlich diffuse Weise strahlenden Sonnenschein. Hinter der Trauer aber saß ein aufgeschrecktes Tier, greller Fieberkrampf oder sich in einer Kuhle windendes Leid, dessen Schluchzen eine Hand breit unter der Kehle, knapp über dem Herzen seinen Ort zu haben schien.

Zhenja
Künstlername des aus Südrußland stammenden Dichters Jewgeni Sacharow; hob unter nickname Zhenja 2007 gemeinsam mit Gesche Blume und Viktor Kalinke den literarischen Blog www.inskriptionen.de aus der Taufe. Das seit 2009 verwendete Pseudonym stand dabei zunächst Pate für eine Reihe von Versuchen, sich zugleich die Bild- und Klangsprache des 1922 verstorbenen futuristischen Dichters Viktor Vladimirovic Chlebnikov und die Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschen als literarischer Nichtmuttersprache zu eigen zu machen. Zunehmende Vermischung eigener Sprachschöpfungsprozesse mit dem Ideenfundus des russischen Avantgardisten bis zur „non-rem-fusion“. Sacharow lebt und arbeitet seit 2008 als Garderobier und freischaffender Autor in Frankfurt am Main. Projekt der beiden in Deutschland ansässigen russischen Dichter Jewgeni Sacharow und Sascha Perow, „Brüder im Namen“. Jewgeni beschäftigt sich seit 1990 mit Drama in - wie er es nennt - Außenprojekten, ich dagegen (Perow) versuche mich gelegentlich an Übersetzungen aus dem Russischen; mein Ziel: Erschaffung eines neuen Dialekts der Weltpoesie, der „Sternensprache“. Wichtig war für unser Inskriptionen-Doppelleben die Begegnung mit der deutschen Dichterin Hanna Fleiss im Winter 2012 in Berlin.

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