Versuchsreihe: Herr Klopsig und Frau Edelsüß (83. Folge)

Die Insulinspritze

Der Vormittag im Braunschweiger Cafe Wagner war immer etwas Besonderes. Herr Klopsig hatte sich auf einem Stuhl niedergelassen, der seinen schwerfälligen Körper nicht zu unterstützen schien. „Hm“, dachte er, „da werde ich mich wohl noch an Frau Edelsüß‘ Oberschenkel festklammern müssen, um ein Umfallen meiner Person zu verhindern.“  Dickliche Wurstfinger krallten sich in Frau Edelsüß hinein. Sie stöhnte, aber nicht vor Freude. Wir wissen nicht, weshalb sie stöhnte. Seit Monaten arbeitete sie im Café Wagner als Konditorin, schnitt Torten entzwei, schmückte Kuchenstücke mit künstlich roten Kirschen, schenkte Kaffee und Tee aus, löffelte Eis in Waffeltüten. So hoffte sie, ihr Studium zu finanzieren. Doch Herr Klopsig ahnte nichts von den finanziellen Nöten einer angehenden Studentin und hielt Frau Edelsüß für eine verkappte Krankenschwester, da die Konditorhaube, die sie trug, sich bis auf das fehlende Rotkreuz auf der Frontseite nicht von einer Schwesternhaube unterschied. Er bestellte, während er sich noch in die halbseiden bestrumpften Beine von Frau Edelsüß klammerte, (dass sie ihn nicht wegen sexueller Belästigung verklagte, verdankte Herr Klopsig nur ihrer von Geburt edlen Gesinnung), ein Diabetiker-Eis. Er registrierte enttäuscht, dass Café Wagner eine solche Spezialität nicht führte. Frau Edelsüß klapste dem korpulenten Gast zärtlich auf die Finger und deutete auf den Diabetiker-Kuchen hinter der verglasten Theke, in der die Wespen nach stundenlanger Schleckerei bereits von beginnendem Alterszucker heimgesucht wurden. „Werter Herr Klopsig“, sinnierte Frau Edelsüß, die niemals vergaß, sich wie eine Lady zu benehmen, „halten Sie nur einen Augenblick inne und betrachten Sie das brummende Getier hinter Glas. Es ist einer solchen Süßigkeit auf Dauer nicht gewachsen. So bedarf es einer Insulinspritze, um den Stoffwechsel wieder ins Gleichgewicht zurückzuführen. Wir alle, Sie genau wie ich, wissen zu gut, dass zuviel Süßes auf Dauer nur schädlich sein kann. Doch ebenso wissen wir auch, dass die Medizin genügend Chemie bereit stellt, damit wir weiter sündigen können. Warum also Verzicht üben?“ Herr Klopsig räusperte sich und betrachtete die künstlichen Wimpern von Frau Edelsüß. Dann bestellte er beherzt ein großes Stück Donauwelle mit Vanilleeis.

crysantheme
Wer eine Crysantheme verblühen lässt oder ihr den Kopf vor ihrer Zeit abschneidet, der erntet zur Strafe nur noch grünes Friedhofskraut.

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  1. Finale Folge

    Adelina Klopsig-Edelsüß riss die Tür zum Krankenhaus auf.

    Noch während des Anrufs ihrer Mutter hatte Adelina das halbangebissene Vollkornkeks achtlos auf den Tisch geworfen und war aus dem Zimmer gestürzt.
    – Harribert, wo ist der Schlüssel vom Van ?
    – Hier. Harribert griff in die Tasche seiner ausgebeulten Kordhose. – Adelina
    was ist los ?
    – Mein Vater. Würgte sie mit erstickter Stimme hervor. – Sie können nichts mehr
    für ihn tun.

    Der Flur im 3. Obergeschoß schien ihr endlos lang. Ganz am Ende sah sie eine schmale Figur stehn. – Papaa – dachte sie – Papaa. Warte…Ich komme.
    Die Rockschöße ihres Mantels wehten, das rasche Gehen bereitete ihrem massigen Körper Mühe, aber ihre Seele flog, flog geradewegs vorbei an der sehr aufrechten Gestalt ihrer Mutter, hinein hinein in das weiße Zimmer, Papaa…
    Sie bremste ihren Lauf.
    – Hallo Mamaa.
    Frau Edelsüß stand vor der geschlossenen Tür des Krankenzimmers. Sie nahm sich einen Faden vom Kostüm. Dann fuhr ihr Blick wie ein Scanner über die Umrisse ihrer Tochter, einmal von oben bis unten und zurück. Mit einer kurzen Bewegung öffnete sie ihre Handtasche, kramte einen kleinen Hornkamm daraus hervor und hielt ihn Adelina entgegen.
    – Hier Mädel. Kämm dich.
    Adelina starrte auf das makellose Blond ihrer Mutter.
    In diesem Augenblick trat der Tod ein.

  2. Die vorletzte Frisur in Folge
    Adelina Klopsig-Edelsüß schnitt die Leine des Terriers durch. Dieser löste sich mit sofortiger Wirkung vom Bürgersteig. Erleichtert spritzte Frau Klopsig-Edelsüß sich etwas Haarpray auf, justierte die Rita-Hayworth-Frisur. Sie verabschiedete sich vom Namen „Klopsig“ und beerdigte ihre alten Eltern mit der ihr anstehenden Würde. Dies getan, buchte sie einen Flug und heiratete die heißeste Poppersträhne.

  3. … doch es kam anders:
    Vor den Gemälden Menzels stehend, flüsterte Frau Edelsüß ins Ohr von Herrn Klopsig, er hindere sie am geistigen Arbeiten. Ein interessanter Fall, dachte Herr Klopsig, der seiner Gestalt nach zwar etwas unförmig, vom Verstand her dafür nicht weniger scharf war. Er arbeitete bei der Bahn, als Dispatcher. Doch damit sollte es nicht mehr lange weitergehen. Frau Edelsüß war in letzter Zeit etwas abgemagert. Die übrigen Besucher der Galerie rückten in Abstand zu den beiden, die Bilder verdunsteten, graues Leinen zurücklassend. Ihr geistiges Sein: Wohl erkannte er ihr Ringen um Abhebung vom Alltäglichen, ihr Ringen um Abstraktion – wovon abstrahierte sie nicht: von der Not, sich zu ernähren; von der Not, mit anderen Menschen zu sprechen. Herrn Klopsig berührten ihre Magerkeit und ihr Schweigen. Sie ernährte sich ängstlich, von Zigaretten, Kaffee, manchmal einem Apfel. Es schien, sie wolle abmagern, um in bestimmten Augenblicken nicht gesehen zu werden. Sie sprach, als kränkten sie ihre eigenen Worte, als bedeuteten sie eine Festlegung, vor der sie zurückscheute, die niedere Realität aber, der notgedrungene Umgang mit ihr, ließe kein Ausweichen zu. Es schien, als lastete ein Fluch auf ihrem Sprechen, sie glaubte, weniger sagen zu können, als sie dachte. Sprachlichen Solipsismus nannte sie das, doch Herr Klopsig wußte, daß es nicht stimmte. Nur Fremden gegenüber vermied sie gestischen Ausdruck. Gesicht, Körper, Bewegung blieben ausgespart, wenn sie sprach. Sie weinte trockenen Augs. Ihre Magerkeit, ihr Schweigen, ihre Fremdheit im Irdischen, ihre Scheu und Flüchtigkeit, ihr gelles Kichern im Geborgenen rührten und berührten Herrn Klopsig. Nähe ist nötig, die Gleichgültigkeit der Buchstaben zu überwinden. Fremden erschien Frau Edelsüß von bitterem Charakter. Doch sie täuschten sich. Es gab einen, der geeignet war, sie zu erkennen, näher ans Herz gewachsen. Menzels fiktive Wirklichkeit kehrte auf die mit Leinen bespannten Wände zurück, Muskeln der Stahlarbeiter, Flötenkonzerte am preußischen Hof. Sie halfen den beiden aus der narzistischen Falle heraus.

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