Würfelzucker

Mein Freund schrieb mir von einer seiner unzähligen Reisen, den Annehmlichkeiten und Hindernissen des Unterwegsseins, den ungewöhnlich schicken Herren und Damen mit auftoupierten Haaren, schnittigen Zöpfen und dem Palaver von Welt. Den transparenten Duschkabinen, den Schüttelfrösten während seiner Fieberperioden oder den Unbequemlichkeiten des dreifachen Währungstausches. Das Beste, meine Liebe, das Beste neben all der Hochkultur Europas, den Katakomben, den kleinen Restaurants mit dem starken schwarzen Tabak und dem Morgenkaffee, gemahlen aus echter Bohne – dazu reichen sie Würfelzucker, bedruckt mit den Emblemen aller Kantone –  das Beste, meine liebe Freundin, das Beste auf jeder Reise war und ist doch immer das Essen.

Nach so einem Brief wartete ich drei Tage mit einer Antwort. Es machte mich verlegen, ihn so offen über den Körper und seine Einverleibungswünsche schreiben zu sehen. Was es genau zu essen gab, blieb im Dunkel. Ich griff zum Taschentuch und schnaubte mir die Nase, die auch im Spätsommer unter dem Blütenstaub litt und unentwegt lief. Ich trank meinen Tee nicht aus. Ich betrachtete seine steil abfallende Schrift, die Postkarte mit dem Elefanten darauf. Ich spitzte den Stift. Ich drehte mir eine Locke um den Finger und dachte nach. Mein Lieber, schrieb ich schließlich zurück, das Essen ist der gewagteste Teil einer Reise. Es wird in großzügigen Schüsseln dargeboten, zwei bis dreimal am Tage, du fühlst dich kurz zuvor wie frisch gebadet, legst dir neue Garderobe an und begiebst dich, den Teller in der Hand, mit dem Besteck bewaffnet, in den Esssalon. Ich will dir nicht aufzählen, welche Speisen es gab. Die Saucen waren hervorragend, die Gesellschaft leger und nonchalant. Flattrige Kleidung, lose Mundart, schlaffe Hüte. Die Tage waren heiß. Ich und meine Freundin gewöhnten uns das Schaufeln an, wir sahen unsere ewig gefüllten Backen, die ewig hungrigen Augen, die bereits zum Zerbersten gestopften Münder. Und immer lächelten wir, schnippten wir sorglos unsere Asche in die silbernen Gefäße. Ich wurde von Tag zu Tag eleganter und raffinierter darin, das so eben Genossene auf dem schnellsten Wege wieder los zu werden. Schon während ich es mir einverleibte, dachte ich im Stillen an eine neue Methode. Ach, lieber Freund, die Klagen und Mühen des zu reichlichen Genusses sind ein wesentliches Laster unserer Zeit – gleich dem Unterwegssein und seinen Strapazen. Wenn wir würfeln, überlassen wir vieles dem Zufall. Aber ich hoffe, wir zwei, Du und ich, sind noch immer Tag und Nacht, Sonne und Mond, die Vorreiter auf einer Zielgeraden…

Ich weiß nicht, was und wann er mir antworten wird. Ich wickle ein Stück Zucker aus und lege es in den frisch gebrühten Kaffee, der mir den Mund zusammenzieht.

Ein Kommentar

  1. „Aber ich hoffe, wir zwei, Du und ich, sind noch immer Tag und Nacht, Sonne und Mond, die Vorreiter auf einer Zielgeraden…“

    Das ist Klasse, Kleist! Aber ich möchte auch erwähnen, dass die ersten Ameisen auf der Flucht vor der Katastrophe überrannt werden. Daher ist es überdenkenswert, doch lieber die letzte Ameise auf der Zielgeraden zu sein…

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