Fünf Minuten nach Turgenjew

Die Arena, mit ihrem weißen, intimen, als Rund gebauten Gestühl, überraschte: Ein Viertel der Plätze Arena waren schon besetzt von Lilien, die einen betörenden Duft verströmten. Doch bevor die Zuschauer in einen dämmernden Bewußtseinszustand fallen konnten, erklang aus der Dunkelheit eine Geige. Ein paar Klänge und man war mittendrin: knapp zwei Stunden mit Szenen aus „Väter und Söhne“, vor allem um das Kapitel 16 herum.

Es ist nicht das große Orchester, das die „Leipziger Festspiele“ auffahren. Darin liegt ihr Reiz. Es kann schon mal vorkommen, daß die Hauptdarstellerin einer nießenden Zuschauerin „Gesundheit“ wünscht. Es geht um Gegenseitigkeit und Kontakt, um ein Aufbrechen der Konsumhaltung, die dem Nutzer technischer Medien aufgedrängt wird. Es geht auch um das Gemeinschaftliche des Erlebens.

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Also um kleine Besetzung, intensive Wirkung. Zwei Musiker: der als zaristischer Soldat ausstaffierte Geiger – das ist aber auch der einzige Verweis aufs Slawophile – und ein schlaksiger, als Ballettmädchen herumhuschender Pianist am Computer. Drei Schauspieler: Arkadi (Günther Harder), klein und dicklich, noch „Jungfrau“, schwankt zwischen Selbstmord und Attacke. Den Revolver aufs Publikum gerichtet, jammert er über sein Unglück. Bis ihm Jewgeni (Manolo Bertling) von der schönen Anna (Cordelia Wege) erzählt, die jung verwitwet reich geworden ist und zurückgezogen auf dem Lande lebt – was will der männliche Eroberer eigentlich mehr? Was sucht sie selbst eigentich noch?

Sie beschließen, ihr zu zweit die Aufwartung zu machen. Kaum ist der Entschluß gefaßt, zerreden sie ihn und kommen über Grübeleien nicht heraus. Sie ähneln Don Quichote und Sancho Pansa, zwei Nihilisten in ihrer gewollten Hoffnungslosigkeit.

Da steigt Anna in „kühler Schönheit“ ihres aristokratisch aufreizenden Flaumkleides die Treppe herab und lädt sie zum Besuch ein, beide bitteschön. „Kommt beide in meine Koje, ich meine Nikolskoje“, verbessert sie sich und läßt ihren Sprachwitz funkeln.

Was können sie zu dritt miteinander anfangen? Lieben dürfen Nihilisten nicht, also tanzen sie. Die Herren werfen ihre Oberkleider ins Publikum – wie gut, nicht in der ersten Reihe zu sitzen – und springen in Balletthosen umher. Schließlich droht es doch, „ernst“ zu werden. Man nähert, man berührt sich. Arkadi aber bekommt Nasenbluten, einen Moment lang überfällt den Zuschauer Mitleid, dann Ekel, dann Grauen. Diese Wandlung ist die eigentliche Stärke des Stücks.

Der einst aktuelle, inzwischen längst verblaßte, politische Hintergrund aus Turgenjews Epoche, der Streit zwischen Modernisten und Traditionalisten, bleibt draußen. An der Oberfläche geht es um die Möglichkeit zu lieben, wenn die persönliche Ideologie Liebe verbietet, um die innere Zerrissenheit des Nihilisten, sich zu dem zu bekennen, was gemeinhin als „natürlich“ gilt.

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Anna feuert mit ihren Reizen dieses Spiel an, bis sich Jewgeni bei Aufbietung aller Peinlichkeit zu einem Bekenntnis überwindet: „Du hast mich soweit gebracht, daß ich dir sage, wie wahnsinnig ich dich liebe.“ In diesem Augenblick verliert sie das Interesse, erwidert: „Das war es nicht.“ und schleudert die schwarze Schlange, die sich als „Flechte aus ihren Haaren löst und über ihre Schulter rollt“ (Kapitel 17, S. 114), lustvoll hoch ins Publikum – wie gut, nicht in einer der oberen Reihen zu sitzen…, aufatmen, es flog nur eine Schlange aus Gummi durch die Luft, die Anna unauffällig gegen die echte Schlange, die sich eben noch effektvoll auf der weinroten Bühne wand und züngelte, ausgetauscht hat; immerhin: den Schlangenphobikerinnen auf den oberen Sitzen schlief für einen Moment das Gesicht ein.

Nein, diese inneren Luxuskonflikte des Nihilisten sind es nicht, die dem Stück Schärfe geben. Den eigentlichen Stoff, an dem der Zuschauer noch auf dem Heimweg und in seinen nächtlichen Träumen kaut, bildet das unüberwindliche Leid des Versagers, der von Arkadi repräsentiert wird. Nicht nur das Nasenbluten im entscheidenden Moment des Balzens steigert die Lächerlichkeit. Nachdem Jewgeni, äußerlich noch stoisch, innerlich schon anerkennt, daß er in Anna verliebt ist, setzt er den Freund auf die Halbschwester an, Katharina, das schlaksige Ballettmädchen.

Arkadi gelingt es nicht, sie zu verführen, er zwingt die Schüchterne unter seine Gewalt. Das vom Nasenblut entstellte Gesicht verleiht ihm das Aussehen eines Vampirs, eines weinerlichen, verzweifelten Vampirs, der das Glück nicht zu gewinnen vermag. So ruft Arkadi, nachdem er Katharina befohlen hat, sich auf den Rücken zu legen, triumphierend aus: „Ich kann ein Raubtier sein, ich kann ein Raubtier sein!“ und stürzt sich auf sie.

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Dem Zuschauer wird in diesem Stück eine anschauliche Entstehungsgeschichte der Perversion aus der Unterlegenheit geboten. Der Akt der Selbstermächtigung beschert dem Geächteten dieser Welt ein vorübergehendes Hochgefühl und verordnet der Spielgefährtin die Opferrolle.

So plakativ wird das auf der Bühne nicht ausgesprochen, die Geschichte springt ins Auge des Betrachters. Theoretisch müßte die Unterwerfung Katharinas wiederum Versagen, Verächtlichkeit und Demütigung hervorrufen, so daß sich die Perversion als perpetuum mobile unendlich fortsetzen kann. Wenn Katharina aufbegehren und sich ihrerseits über andere erheben würde (die Kinder?). Doch soweit kommt es nicht.

Auf der Bühne verwandelt sich der Perverse, der seine Schwäche so gern als Raubtier ausagieren möchte, in einen russischen Bären. So bedrohlich dieses Tier ist, wenn es einem tatsächlich hinter den Karpaten über den Weg läuft, so niedlich wirkt es, wenn es lebensgroß auf der Theaterbühne tanzt und Arkadi am Ende, unglaublich schwitzend, darunter hervorkommt – so träumen wir uns die Verwandlung des Bösen ins liebenswürdig Tierische.

Männliches Eroberungsversagen trifft auf weiblichen Aufopferungserfolg. Katharina wendet die Demütigung stillschweigend um in Demut. Beiläufig, am Rande, von den Helden des Geschehens ungeachtet, im Applaus untergehend.

Mehr Theater geht nicht. Ohne schwüles Klassikerpathos, marktschreierischen Exhibitionismus.

Fünf Minuten nach Turgenjew, Regie: Robert Borgmann, nach dem Roman „Väter und Söhne“, Centraltheater Leipzig, 11.-14. 4. 2013

Alfred Knurr
geb. am 24. 12. 1967 in Görlitz als Alfred Knerr, ist ein deutschsprachiger Kritiker, Possenreißer und Bän-kelsänger, die Eltern waren dem Wein zugeneigt, was ihn nicht hinderte in Halle (Saale) zum deutschen Biedermeier zu promovieren, zuletzt: Das Drama von Gier und Geiz, Frankfort am Mein, 2014

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