Für Maris
Als Viviane noch klein war, mussten ihre Eltern alle Kleintiere vor ihr verschlossen halten. Denn Viviane aß alles auf: Motten, Fruchtfliegen, Mistkäfer, Scheißhausfliegen. Sie sammelte sie in einem kleinen Glas mit Schraubverschluss, das sie ihrer Mutter unter Bitten und Betteln abgerungen hatte. Darin summte und brummte es alsbald geschäftig vor wild und panisch gewordenem Viehzeug. Sobald die Panik ihren Höhepunkt zu erreichen drohte und die krabbelnden und brummenden Tierchen sich allmählich gegenseitig lästig zu werden begannen, hatte Vivianes Lebensfreude ebenfalls ein bemerkenswertes Hoch erreicht. Sie schüttelte das Glas in ihrer linken Hand, sie hüpfte auf und nieder wie ein Zirkuspferd im Galopp und öffnete ihren kirschroten Kindermund. Die kleinen Zähnchen schimmerten weiß und glänzend, die zierliche Zunge schnellte hervor, während Viviane das Glas öffnete, und mit äußerst geschickter Bewegung einen Mistkäfer ein fing. Der Mistkäfer, goldbraun und behäbig, mit einer Art Lesebrille auf der Nase, ahnte was ihm bevorstand. Er war lange Zeit Professor für Philologie an der Privatuniversität für alle Mistkäfer des Landkreises Braunschweig-Wolfenbüttel gewesen. Viviane hingegen war ein eitles und dummes Menschengeschöpf und hatte keinerlei Sinn für den vollendeten Geist eines promovierten Mistkäfers, der zudem noch eine Art Lesebrille auf den Fühlern trug. Mistkäfer – besonders intelligente – tun sich in der Regel recht schwer. Denn sie glauben stur an die Möglichkeit, es im Guten, also im Gespräch mit Kindern wie Viviane zu versuchen. Ach, Viviane war im Guten nicht beizukommen! Sie sperrte ihre Mutter mitten im Winter auf dem Balkon aus, öffnete unerlaubt Türchen vom Adventskalender und malte Kreise und Spiralen, häßlich und absonderlich, in bizarren Farben auf die Kinderzimmertapete.
mistk
Mistkäfer sind Lebewesen, die sich von den Ausscheidungen anderer ernähren.