Aufbauabbau

Mit der Pleite des Aufbau-Verlages verliert Ostdeutschland endgültig seine Stimme im Chor des bundesdeutschen Verlagswesens. Christoph Links hat in seinen Beiträgen (siehe: Was wurde aus dem „Leseland DDR“?, in: ders. (Hg.), Am Ziel vorbei, Berlin 2005) schon vor Jahren auf den ökonomischen Irrsinn hingewiesen, der eine gesamte Region zum Absatzmarkt degradiert, die Wertschöpfung aber liquidiert. Ist es als Preis der deutschen Romantik zu verstehen, daß auf ökonomische Folgen politischer Entscheidungen in diesem Land zu wenig geachtet wird, sobald sich ideologische Gespenster vor den Augen tummeln? Die schrumpfende ostdeutsche Bevölkerung hat sich damit abgefunden, scheint es, daß die Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder auf Dauer alimentiert werden muß. Das Anziehen der Daumenschrauben (Hartz 4) versetzt Gefesselte nicht in Bewegung. Über das ökonomische Ausmaß der treuhändischen Abwicklungspolitik sind wir uns mittlerweile im Klaren: es gibt in Ostdeutschland keine nennenswerte Verlagsproduktion mehr, nur 2,2 Prozent der lieferbaren Titel werden im Osten verlegt (ZEIT, 19. 6. 2008). Es gibt nur noch diverse Liebhaber- oder Nischenproduktionen, ein Negligé für den gesamtdeutschen Buchmarkt, eine ökonomisch zu vernachlässigende Größe, die für die Kulturpolitik und die Branchenverbände immerhin noch ausreicht, um der Öffentlichkeit in Hochglanzbroschüren das Bild von einem florierenden Geschäft zu suggerieren. Im Verlagswesen zeigt sich um einen Deut klarer, was auch in der übrigen Wirtschaft gespielt wurde: ein radikaler Kahlschlag, der bestenfalls vom Niedergang des Buchhandels insgesamt in Folge der Digitalisierung jemals wieder eingeholt werden kann.

Die Frage, die sich anschließt, lautet: Was bedeutet die vollständige Liquidation des ostdeutschen Verlagswesens für die Kultur und das demokratische Experiment eines Landes, das in seiner Geschichte üble und übelste Diktaturen hervorgebracht hat? Darüber wird auffällig wenig oder gar nicht diskutiert – ein Mangel, der mit dem Fehlen der materiellen Basis demokratischer Meinungsäußerungen, der Existenz unabhängiger Verlage, merkwürdig korrespondiert. Die westdeutschen Meinungsmacher, die seit vierzig Jahren, genauer: seit 1968, in ihren Redaktionssesseln lümmeln, hauen gern mal verbal auf ihre ostdeutschen Landsleute ein, wenn es darum geht, nach einem rechtsorientierten Überfall oder Wahlsieg der Linken Demokratiedefizite in irgendeiner Kleinstadt zu bejammern. Daß den Ostdeutschen die eigene literarische wie politische Stimme entzogen wurde, indem man nach dem Fall der Mauer den ehemals volkseigenen Verlagen einen Bauingenieur als obersten Verwaltungsbeamten mit dem Auftrag vorsetzte, sie schnellstmöglich zu verscherbeln, koste es, was es wolle – diese vom Westen inszenierte Entmündigung wird von den heutigen Moralaposteln stillschweigend übergangen. Sie ähneln Eltern, die ihr Kind zwar gut füttern, die ersten Lallversuche aber als Ruhestörung mißverstehen und mit Klebeband vorm Mund bestrafen, um das Kind dann, wenn es – berechtigterweise – bockt und trotzt, erst richtig zu verprügeln oder dem Jugendamt vorzuführen, damit es in Obhut genommen werde. Seit dem Fall der Mauer erleben wir die verlegerische Inobhutnahme der Ostdeutschen in westdeutsche Fürsorgeanstalten, wir erleben eine beispiellose Entmündigung, die auf Sammetpfoten daherkommt, nicht mit den Mitteln der politischen Zensur, sondern des ökonomischen Zwangs agiert.

Woher kommt das nachhaltige Desinteresse in der ostdeutschen Bevölkerung an der Entwicklung der Demokratie und der Hochkultur? Wie kommt es, daß ernsthafte Fürsprecher der beiden letzteren allenfalls ein müdes Lächeln ernten, wenn überhaupt? Ist es die angebliche Unbelehrbarkeit oder Starrköpfigkeit des ostdeutschen Charaktertyps, der eben über anderthalb Generationen hinweg durch den Stalinismus versaut worden sei? Xenophobische Spekulationen dieser Art werden noch in manchem Wohlstandsnest des westdeutschen Hinterwalds gepflegt – mit der Lebenswirklichkeit haben sie wenig gemein. Die tägliche Erfahrung der Stimmlosigkeit läßt niemanden verhungern. Es gibt keine Demonstrationen, solange die Entmündigten noch einigermaßen satt sind. Niemand hat es nötig, für das Recht auf Meinungsäußerung auf die Straße zu gehen – denn das Recht steht formal jedem offen, darum geht es nicht. Es geht um die materielle Grundlage, seine Meinung – und sei es nur seine literaraische und ästhetische Überzeugung – in den Diskurs werfen zu können, ohne daß sie zuvor von westdeutschen Redaktionsstuben und Lektoraten gefiltert wird. Wenn es Menschen nicht mehr möglich ist, ihr Menschsein zu artikulieren, hören sie allmählich auf, Mensch zu sein. Der Mangel an ungefilterter Äußerung (früher hieß das Authentizität, aber sie ist in Verruf geraten) entwertet nunmehr die gesamtdeutsche Demokratie und überführt ihre Apologeten der Lüge. Wer sich vor jeder Wortmeldung hinten anstellen muß, wendet sich irgendwann ab. Die Themen im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik werden von einem Filz bestimmt, der einer „Wende“ bedarf, einer personellen Erneuerung. Wie wäre es die Leitungsstellen in den öffentlich-rechtlichen Anstalten grundsätzlich auf fünf Jahre zu befristen? Ich höre schon die Kritiker, die mich aufs Internet verweisen und die Freiheit, die dort zu finden sei – sie ist tatsächlich zu finden und deshalb stehen diese Gedanken dort.

„Aufbau“, das einstige Flaggschiff der DDR-Verlage, war das letzte Feigenblatt, das die ostdeutsche Entblößung von literarischer Wertschöpfungskapazität verbergen sollte. Paradoxerweise hat die politische Zensur, die die DDR auf die Literatur- und Kulturszene ausübte, zu deren Wertsteigerung beigetragen und den mittlerweile verhallten Ruf vom „Leseland“ erst hervorgezaubert. „Aufbau“ suggerierte, daß es einem ostdeutschen Verlag möglich sei, im Chor der Konzerne und Meinungskartelle mitzusingen. Der äußere Schein war beeindruckend. Nun ist die Hülle gefallen und jedermann sieht: dahinter ist nichts.

Viktor Kalinke
geb. in Jena, Studium der Psychologie und Mathematik in Dresden, Leipzig und Beijing, Kreativitäts-Preis der Hans-Sauer-Stiftung, Mitbegründer der Edition + Galerie Erata, Promotion, Professur, lebt in Leipzig.

7 Kommentare

  1. Christop Hein schrieb einmal in einem Theaterstück, dass wir unsere Meinung als Graffiti an die Wand sprühen dürfen.

  2. Demokratie? In Sachsen zumindest sind die Richter am Oberverwaltungsgericht, die Oberen Beamten, der Chef der Kulturstiftung, der Intendant des MDR, der oberste Polizist und viele andere mehr alle in einer Partei. Das war seit 1933 schon immer so. Bemerkenswert: bei den Nazis gab es keine Wahlen, bei den Kommunisten 99-Prozent-Unterstützung, heute haben wir unter 50-Prozent-Wahlbeteiligung, diese bestimmte Partei hat weniger als 50 Prozent der Stimmen (wird also von weniger als 25 Prozent des Volks gewählt) – und trotzdem sind alle wichtigen Positionen wie schon bei den Nazis und in der DDR mit Leuten einer Partei besetzt. Ist das Demokratie? Ist das Gewaltenteilung?

  3. 1. Das haben wir schon immer so gemacht.
    2. Alle anderen haben das auch schon immer so gemacht.
    3. Anders geht es nicht.
    4. Da kann ja jeder kommen.

  4. Sachsen ist nicht der Osten, der Osten ist nicht (mehr) die DDR. Alles ist im Fluß. Was gleich erscheint, ist nicht dasselbe, lieber Herr Schmidt, Ihre Gleichsetzung ist verheerend und Teil des Problems.

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