Eine Frechheit

„Bei großen Preisen sollte man keinen exotischen Weg gehen und nach Kleinverlagen mit avantgardistischer Lyrik suchen.“ antwortete der renommierte Kritiker Hubert Winkels als Vorsitzender der Jury für den kommenden Preis der Leipziger Buchmesse in einem Gespräch mit dem „Börsenblatt“ (Heft 46, 2012, S. 11).

Hat er damit seine Neutralität als Juror verletzt? Gibt er sich als Diener der Konzernverlage zu erkennen? Wird avantgardistische Lyrik von vornherein als nicht preiswürdig aussortiert? Fungieren Literaturpreise als Katalysatoren von Marktförmigkeit statt als Sextant auf dem weiten Meer der Neuerscheinungen? Was sagen die zahlreichen Kleinverleger, die mit ihren Mitgliedsbeiträgen und Standgebühren auf der Leipziger Messe den Preis mitfinanzieren, der ihnen offenbar vorenthalten ist,  zu dieser Parteilichkeit? Fragen eines lesenden Zeitgenossen. Wo bleibt der Sturm der Entrüstung?

Marquis de Passade
geb. am 2. Juni 1940 in Triest, slowenischer Adliger mit französischen Wurzeln, wurde bekannt dank ei-ner Reihe kirchenfeindlicher und philosophischer Essays, die er im Gefängnis schrieb. Nach seiner Ent-lassung wanderte er aus und nahm eine halbe befristete Stelle an einer deutschen Hochschule an, um die Sadismen des akademischen Prekariats zu studieren. Passades Werke nehmen Kritiken am effizienzbasierten Studium vorweg, dessen Auswirkungen erst mehr als ein Jahrhundert später im Niedergang des westlichen Zivilisation sichtbar werden.

13 Kommentare

  1. ja. wo bleibt er, der sturm. allein schon um wellen auszulösen braucht es bewegung. und organisation. wer möchte das alpha-tier sein. wer die herde leiten. an-leiten. ach, das sind alles schon wieder so viele fragen. da bleib ich doch lieber im warmen liegen. der große preis ist eh geschichte. gestorben mit wim thoelke. klein-(preis)vieh macht ja auch mist…
    doch eines interessiert mich noch, herr marquis: haben sie lesender zeitgenosse eine antwort auf ihre 6 fragen. was müssten kleinverlage denn tun, um aus ihrem status des nicht-bedacht-werdens rauszukommen. sich bewegen. wellen machen. einen sturm auslösen.
    ps: ist es bei ihnen auch so neblig-trüb? wärmflasche, thee und hauspuschen sind eine wohlthat.

  2. leipzig ist eine handelsmesse und die gesezte des marktes sind nicht die gesetze der kunst. herr winkels als juryvorsitzender macht nur klar, dass die leipziger preisvergabe den gesetzen des marktes gehorchen soll. das ist eine ehrliche ansage und erinnert mich in seiner unverblümtheit an die selbstgewisse borniertheit eines anderen anwärters auf einen häuptlingsposten … also nicht aufregen herr marquis, es geht ja nicht um literatur oder künstlerische qualität – falls sie das ernsthaft geglaubt haben sollten. ich kenne jedenfalls keinen avantgardistischen kleinverlag (und ich kenne einige), der ernsthaft am preis der leipziger buchmesse interessiert wäre.

  3. welche interessen werden hier vom beitragschreiber und den bisher kommentierenden vertreten? die der verleger, die der künstler oder die interessen derer, die von ihrer kunst bzw. dem, was sie verlegen, leben müssen? leben wollen? haben wir künstler nicht alle irgendwann oder irgendwo das ziel (gehabt) mit einem der großen preise bedacht zu werden oder haben es insgeheim immer noch? wir sind von den marktgesetzen ebenso abhängig und stehen ihnen ebenso ambivalent gegenüber, wie irgendein anderer, den wir verachten.

  4. „die gesezte des marktes sind nicht die gesetze der kunst“: hier gibt es wieder 2 wege, auf denen diese annahme weiter führt und worin diese wege münden: entweder direkt in die hauspuschen-kunst, oder, mit viel glück & geschick, in dem posthumen ruhm. wegkreuzungen sind zuweilen möglich. aussnahmen von dieser regel sind äußerst selten und wollen gestreichelt werden.

  5. genau, crysantheme.
    genau, frau kleist.
    und aus eben diesen von ihnen angeführten fragen und gründen lohnt sich keine bewegung, die einen sturm auslösen könnte.
    (vgl. dazu kommentar eisenhans: „nicht aufregen.“ oder – wie mein pübertierender filius einst sagte: „und wir regen uns wieder ab.“)

  6. da habe ich mich wohl missverständlich ausgedrückt – meine fragen und gründe sollen ein argument dafür sein, dass bewegung sich nicht lohnt? weshalb? ich bin ratlos…

  7. liebe cryantheme,
    warum sich die bewegung nicht lohnt? weil ein protest doch nur ein stürmchen im wasserglas wäre.

    sie schreiben, dass „wir künstler alle“ das ziel haben, mit großen preisen bedacht zu werden. ich frage: ist das wirklich an dem? „alle“, so habe ich heute am abendbrotstisch gelernt, „alle“ ist der anfang von vorurteilen.
    es gibt durchaus menschen, die sich als (lebens)künstler begreifen und nicht den wunsch nach großer (materieller) anerkennung haben. und davon geht ein schwung in kleinverlage. man stelle sich das andere leben vor: die qual vor dem kleiderschrank am tag vor der preisverleihung (ich darf gar nicht daran denken!). das ewige versteckspielen beim einkaufen. und dann der peinliche moment, seinen verleger in der sauna zu treffen (obwohl, es soll durch aus förderliche bewegungen zwischen künstler und verleger geben…)

    schauen sie mal auf den kleistschen kommentar: ausnahmen sind selten und wollen gestreichelt werden. also hoffen sie, liebe crysantheme, dass sie die ausnahme sind. ihre texte, jedenfalls das, was ich hier im blog lese, streichle ich sehr gern… und wenn sie den großen preis bekommen, darf ich dann etwas davon haben? kein geld, mir reicht schon eine empfehlung ihrerseits.

  8. also war die frz. revolution ein stürmchen im wasserglas der europäischen geschichte – und die russische auch. wir leben demzufolge noch im absolutismus – oder besser noch auf bäumen.

  9. Franz Kafka auf die Frage, was er von der russischen Revolution halte: „Diese Leute sind so selbstbewusst und lustig. Sie sind Herren der Straße und halten sich für die Herren der Welt. Sie irren sich. (…) Je weiter sich das Hochwasser verbreitet, desto seichter und trüber wird das Wasser. Die Revolution verdunstet und übrig bleibt der Schlamm einer neuen Bürokratie.“(Gustav Janouch: Gespräche mit Kafka. Erinnerungen und Aufzeichnungen. Frankfurt a.M. 1951, S.71) – passt auch ganz gut auf revolutionen im allgemeinen. aber gegen herrn winkels braucht’s nun wirklich keine!
    😉

  10. Was heißt gegen Herrn Winkels? Gegen ihn persönlich geht es nicht. Es geht gegen die Mutlosigkeit, sich ohne Not den unerbittlich erscheinenden Marktgesetzen in der Literatur unterzuordnen, das heißt literarische Kriterien hinter die Schimäre der Marktkriterien zu stellen. Es gab – vor kurzem noch – Zeiten, da konnten mit avantgardistischer Lyrik Theater und Stadien gefüllt werden, und ich wette, daß, wenn die Katalysatoren darauf fokussieren würden, sofort der Markt der Masse folgen würde…

  11. zur dünnen atmoshäre:
    bitte ruhe bewahren und nicht rot und grün verwechseln. hier geht es doch gar nicht um den sinn einer revolution an sich. und daher hat auch keiner der kommentatoren die sinnhaftigkeit der großen geschichtl. revolutionen bezweifelt (by the way: wären auch sie im herbst 89 auf die straßen gegangen? hätten auch sie den mut der mutlosen gefunden?)
    zum Marquis:
    wer sind denn die katalysatoren? und klingen bei ihren worten nicht auch mutlosigkeit (keiner beachtet den klein(künstler)verlag) und angst (oh gott, wenn man uns doch beachtet, sind wir dann mainstream?) durch? kunst, lieber marquis, die vom markt erfasst wird, wird von diesem geschluckt. da beißt die maus keinen faden ab. und wer den preis will, muss dann auch die zeche zahlen…

  12. die „avantgardistischen kleinverlage“ & co sind keineswegs mutlos. sie richten ihre auffassung von qualität nur nicht nach den auffassungen hernn winkels‘. im übrigen wird die literatuszene dank des internets udn neuer medien etc. immer bunter udn vielfältiger – und immer unabhängiger von irgendwelchen messen und jurys! dorthin, und nicht in die alten abgelatschten bahnen, schweife der blick …

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