Erstmals unterwegs [5]

Wir werden einen Schneesturm fordern,

damit er treibe

durch Abgründe der Vitrinen.

Gennadij Ajgi, Frau von rechts

Ich war einverstanden gewesen. Wir trafen uns am Bahnhof und nahmen den Zug in Richtung Süden. Hinter dem Fensterglas lagen die verschneiten Wiesen und Felder in der Sonne, sie zogen am reglosen Blick vorbei wie Bilder einer besseren Welt, im überheizten Abteil war die Luft äußerst stickig. Die drei Stunden Fahrt vergingen wie im Fluge. Wir sprachen wenig. Von Zeit zu Zeit sahen wir einander an und schienen dann jedesmal gleichzeitig zu erschrecken ob der offenkundigen Verrücktheit von Mitreisenden. Einmal wurde die Tochter einer älteren Frau so mir-nichts-dir-nichts nach Amerika geschickt, immer noch besser als ohne Mann und ohne Job in der Provinz zu versauern, ein andermal durfte ein kleiner Junge nach zwei Stunden inständigen Bittens drei Stücken Schokolade essen und verdarb sich dabei fast den Magen. Der Schaffner grüßte freundlich, aber diskret – das schwarze Tuch um deinen Hals sah verwegen aus. Ich begann mir Gedanken zu machen: Könnte ein Schlafsack zu dieser Jahreszeit überhaupt den vom wachenden Geist verlassenen Körper so warm halten, wie die gleißenden Träume es erforderten? Würden nicht die Schuhe durchweichen und schließlich die Füße erfrieren? Je näher wir unserem Ziel kamen, um so mulmiger wurde mir zumute. Und du, du hieltest die Augenlider hartnäckig gesenkt.

Zhenja
Künstlername des aus Südrußland stammenden Dichters Jewgeni Sacharow; hob unter nickname Zhenja 2007 gemeinsam mit Gesche Blume und Viktor Kalinke den literarischen Blog www.inskriptionen.de aus der Taufe. Das seit 2009 verwendete Pseudonym stand dabei zunächst Pate für eine Reihe von Versuchen, sich zugleich die Bild- und Klangsprache des 1922 verstorbenen futuristischen Dichters Viktor Vladimirovic Chlebnikov und die Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschen als literarischer Nichtmuttersprache zu eigen zu machen. Zunehmende Vermischung eigener Sprachschöpfungsprozesse mit dem Ideenfundus des russischen Avantgardisten bis zur „non-rem-fusion“. Sacharow lebt und arbeitet seit 2008 als Garderobier und freischaffender Autor in Frankfurt am Main. Projekt der beiden in Deutschland ansässigen russischen Dichter Jewgeni Sacharow und Sascha Perow, „Brüder im Namen“. Jewgeni beschäftigt sich seit 1990 mit Drama in - wie er es nennt - Außenprojekten, ich dagegen (Perow) versuche mich gelegentlich an Übersetzungen aus dem Russischen; mein Ziel: Erschaffung eines neuen Dialekts der Weltpoesie, der „Sternensprache“. Wichtig war für unser Inskriptionen-Doppelleben die Begegnung mit der deutschen Dichterin Hanna Fleiss im Winter 2012 in Berlin.

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