Nur geträumt

Das Haus war leer. Abends nach acht, wenn die Mutter den Auflauf für Ausfahrdienste heiß machte, der Vater auf Sitzungen Lehrgänge vorbereitete, ging Jenna spazieren. Es war nach der Schulzeit. Das halbe Jahr vor dem Studium, das sie nutzlos verbrachte, lange schlief und abends allein durch die Straßen wanderte. Sie träumte von der Zeit danach. Jetzt ist sie darin, ist umgestiegen, sie wirft zwei Tüten und einen Koffer neben sich. Kalte Luft empfängt sie. Der Zug, in die sie eingestiegen ist, kommt aus Ost-Berlin. Man sollte die DDR endlich abreißen oder komplett zunähen, dann würde sie diese Züge nicht betreten müssen. Keine Geschichten von drüben hören. Rentner-Geschichten von Menschen, die für ein paar Mark in den Westen dürfen. Ein Mann erzählt von einem Puffbesuch und drei lesbischen Weibern, von geklauten Wurstbroten und dem Geschmack von Bananen. Jenna findet sich dumm und spießig. Friert in Omas Mantel, knöpft ihn zu, reibt sich die Fingernägel an der Stumpfhose blank. Etwas passiert dicht neben ihr. Es berlinert und sächselt. Sie hat das Elbtal schon einmal gesehen, ist durch die Grenze gefahren, hat sich mit der Schulklasse auf dem Kahn übersetzen lassen, hat das barocke, mit Moos überzogene Dresden im Gänsemarsch durchschritten, im Westbus gesessen, Burg Königstein besichtigt. Ein FDJler diskutierte nach Plan mit ihr und schlug ihr unplanmäßig eine Duschparty vor. Doch Jenna wollte sich nicht ausziehen. Sie war umwickelt von modischen Accessoires, mit Have-Peace Zeichen. Von Karo wurde ihr schlecht. Nach Hause zurückgekehrt, in die Welt von schnurgeradem Schulbus und Lila Pause, träumte sie einmal, sie stünde auf einem leeren Platz, es musste in Dresden sein, an den Steinen, an den Gebäuden erkannte sie es, hoch und nicht aus dieser Zeit, rings um sie herum vereinzelt Leuchtreklamen. Eine Mitschülerin ohne Wurstbusen fragte sie, was sie hier tue. Jenna sagte, sie wohne hier. Und dachte beim Erwachen, da komme ich nie wieder hin. Irgendwann einmal, in ferner Zukunft, würde sie auf den breiten Straßen entfesselter Geschichtslosigkeit spazieren gehen, unwissentlich von einer Landesregierung umgürtet, und einen Euro für einen Sandstein spenden. Vielleicht würde es in dieser Zukunftswelt sogar einen Menschen geben, der sich Gin nannte und der ihr sagte, wir Leipziger mögen die Dresdner nicht, da kommt alles von oben, wir jedoch sind voll von Freiheitsliebe. Wer beide Begriffe unter einen Hut brächte, sei ein König im Geist. Worte, die sie noch aus der Schulzeit kennt, Novalis, Hymnen an die Nacht, H.-Fragmente. Es war erinnerte Zukunft, viel zu gedrängt, und im Jahr der Zugfahrt von Jenna nur geträumt.

samtmilbe
Marianne Kramer: ich mag warme betten, bettlaken im sommer auf der leine, seile mich auch ab, denn ich gehöre zu den spinnentieren. mit der blutlaus hab ich nichts am hut - die kriecht gemächlich auf baumstämmen und bevölkert fensterbänke.

2 Kommentare

  1. Ja! Voll von Freiheitsliebe – das bringt mein Herz zum Träumen! Ach wären Sie doch zu mir nur ein paar Kilometer weiter gepilgert – ich hätte gern mit Ihnen geraucht und philosophiert und Asphalt getreten. F6 hätt ich Ihnen angeboten oder die teuren Clubteile. Und gespottet hätt ich über Ihren Pferdeschwanz, Haare ab und Mund auf!Peace mich auch und mach die Schwerter zu Pflugscharen! Ach, hätten Sie mich doch damals besucht, ich wäre eher aus diesen Mief und Muff geflohen. Vorbei – ist aller Anfang.

  2. alles gute kommt von oben, sagten wir früher, wenn uns eine taube auf den kopf geschissen hatte, denn abgesehen von seiner giftigkeit, bedeutet taubenkot auch immer geld. wir leisteten uns diesen luxus.

Schreibe einen Kommentar zu samtmilbe Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert