Gestern war die Beerdigung von Dr. Ernestus Nettesheim. In einer stattlichen Kirche am großen Fluss wurde die Messe gelesen. Viele Menschen waren gekommen. Seine ehemaligen Kollegen hatten einen Bus gemietet, um ihrem vor einem guten Jahr an Krebs erkrankten Freund und Kollegen die letzte Ehre zu erweisen.
Vor dem Altarraum ein Bild des Verstorbenen, lächelnd, in weißem Hemd, an einen Baum gelehnt. Daneben die Urne aus blauem Porzellan auf einem Sockel, von dem dunkelroter Pannesamt floss. Blumenschmuck in Weiß, Grün, dezentem Rosa und Blau. Der Pfarrer sprach durch ein Mikrophon. Der beste Freund hielt eine Ansprache.
War dieser „geliebte Ehemann“ und „herzensgute Sohn“ vielleicht Jesus? Nie dachte er an sich, immer erst an die anderen. Er liebte die Natur, sah die Details. War verbunden mit dem, was man hinter dem hohen weiten Himmel, der sich über grüne Wiesen und blühende Felder spannt, vermuten mag. “Gott“, so den Pfarrer, „hat den Namen „Ernestus“ in seine Handfläche geschrieben. Er hat ihn zu sich geholt. Er will, dass er nun bei ihm bleibt, er gehört ihm.“
Er hatte ein freundliches Wesen, war lebensfroh – ja, so habe ich ihn auch kennen gelernt, als Freundin der Witwe. Doch meine Freundin hatte immer wieder über seinen Geiz geklagt, von seiner Sorge um das Geld trotz seines beträchtlichen Vermögens.
Dr. Ernestus Nettesheim, promovierter Physiker, Spitzensteuersatz. Lange Zeit Junggeselle, Single, Lebemann. Diagnose Bauchspeicheldrüsen-Krebs. Heirat knapp ein Jahr vor seinem Tod.
Der Pfarrer spricht die Sonnengesänge des heiligen Franziskus von Assisi. Dort, bei Assisi, an einem Olivenbaum, der auch auf der Traueranzeige zu sehen ist, in grüner Wiese und blühendem Feld, ist auch das Bild aufgenommen, das zum Abschiednehmen für die Trauergemeinde vor dem Altarraum steht.
„Bruder Ernst“, sagt der Pfarrer. Er segnet die Urne mit Weihwasser.
Wir singen und beten, knien nieder, erheben uns, senken das Haupt. Einige empfangen die heilige Kommunion.
Vorne in der ersten Reihe sitzen die Witwe und die Eltern des Verstorbenen. Ein Mann von Wohlstand und Bildung in seinen besten Jahren. Nun hat die Krankheit ihn zugrunde gerichtet, der Krebs; der Tod hat ihn geholt.
Zwei Männer in dunklen Anzügen heben die Urne in einem Gestell mit Blumenschmuck von ihrem Sockel und tragen ihn aus der Kirche. Die Gemeinde folgt.
Zuerst die Witwe, alleine.
Dann die Mutter, auf den Vater gestützt.
Ich habe Respekt vor dem Tod und Mitleid vor allem mit der Mutter.
Richtig ist, dass der Sohn die Mutter zu Grabe trägt.
Falsch ist, dass die Mutter den Sohn zu Grabe trägt.
Das kann Gott doch nicht so wollen!
Ihr Haar ist weiß, ihre Füße wollen nicht gehen, doch den Rollstuhl, der vor der Kirche auf sie wartet, lehnt sie ab. Ihre Augen sind weit aufgerissen, ihre Gesichtszüge starr.
Wir schreiten durch den Park am Friedhof vorbei zum Mausoleum.
Ein steinerner Palast hoch über dem großen Fluss. Bruder Ernst wollte nahe an diesem Fluss seine Ruhestätte finden.
Hohe Stufen führen ins Mausoleum. Der Boden ist mit Mosaik geschmückt. Ich schaue nach oben. Zähle zwölf runde Fensteröffnungen unter der Kuppel. Unter dem Mosaik die Gruft, von einer Steinplatte verschlossen. Eine schwere Tür steht halb offen. Dahinter die Treppen; sie führen hinunter in die Gruft. Rechts und links wird die Tür von zwei Statuen bewacht. Barbusige Frauen mit ebenmäßigen Gesichtszügen und Blumenkränzen.
Die Trauergemeinde steht im Halbrund um die Urne. Dann hebt einer der Männer in dunklem Anzug die Urne von ihrem Blumenschmuck und geht mit ihr durch die Tür, die Treppen hinunter.
Die Mutter sinkt zusammen, schluchzt.
Nun ist er weg, für immer. Jeder ist mit sich alleine.
Langsam verlassen wir das Mausoleum und treten ins Freie.
Es starb ein Reicher, der Franz von Assisi liebte und die Natur.
Ich habe dem Tod und dem Toten meine Ehre erwiesen. Kam für eine Freundin, die einen schon Todkranken heiratete. Er verstarb zu früh.
Ich verzichte auf den Leichenschmaus im feinen Restaurant. Schwinge mich aufs Fahrrad und fahre am großen Fluss entlang, stromabwärts nach Hause.
Vor meinen Augen stürzt ein alter Mann. Auf dem Rasenstreifen am Fluss, neben dem Fahrradweg, fällt er vom Fahrrad, beinahe mit dem Kopf an die angrenzende Mauer, das Fahrrad fällt auf seine Beine.
Ich bin direkt in diesen Moment hinein gefahren, als Alfons Hauser wieder einmal ohnmächtig wird und vom Fahrrad fällt.
Ich drehe um; es geht ja so schnell, dass man vorbei gefahren ist – noch ein paar Pedaltritte weiter, und man glaubt schon nicht mehr, was man gesehen hat – und fahre zu dem alten Mann, der mit hellblauen aufgerissenen Augen am Boden liegt. Er liegt auf dem Rücken, die Hände zur Brust gedreht und nach innen gekrampft.
Wer ist er? Ein Penner, der schon am helllichten Tage besoffen ist?
Der alte Mann hat ein paar Streifen und Flecken am Kiefer – von Stürzen? Er hat fast keine Haare mehr. Seine Kleidung ist gepflegt, er riecht nicht auffällig. Auf dem Gepäckträger seines Fahrrads ist eine blaue Sporttasche ordentlich verspannt, obenauf klemmt eine Plastikflasche Coca Cola.
Ich hebe das Fahrrad von seinen Beinen, rufe: „Hallo“, knie nieder und fühle seinen Puls.
Der Mann starrt mich aus hellblauen Augen an. Er ist nicht bewusstlos.
Zwei junge Frauen eilen herbei und fragen nach seinem Namen.
„Hauser“ heiße er, „Alfons“. Er wolle nicht, dass man einen Krankenwagen hole.
Die jungen Frauen meinen aber doch. Sie sind schneller als ich, das Handy am Ohr rufen sie schon den Rettungsdienst. Man kenne dort beim Rettungsnotruf den Namen „Alfons Hauser“ schon, berichten sie mir.
„Wollen Sie etwas trinken?“, frage ich Herrn Hauser. „Nein“, sagt er, davon müsse er sich nur übergeben. Und Durchfall habe er auch, eigentlich immer.
Ich nehme die Sporttasche vom Gepäckträger und schiebe sie unter seine Knie. „Ist das gut?“, frage ich, Alfons Hauser nickt. Die jungen Frauen erwähnen die stabile Seitenlage. „Ist das nicht besser?“
Wir ziehen den alten Mann von der Mauer weg, so dass sein Kopf nicht mehr abgeknickt liegt. Eine der Frauen zieht ihre Jacke aus und faltet sie zusammen; wir schieben sie unter seinen Nacken. Alfons Hauser scheint wieder zu nicken.
Ich halte die Hand von Alfons Hauser und streichle ihn an der Schulter. Ob er gerade stirbt?
Er erzählt: 73 Jahre sei er alt und obdachlos. Seit sieben Jahren werde er ohnmächtig. Jeden Tag falle er mehrmals um. Man habe ihn schon mit dem Hubschrauber aus dem Fluss gezogen. Er wolle so nicht mehr leben. Auch die letzte Nacht habe er im Krankenhaus verbracht; am Morgen habe man ihn wieder aufs Fahrrad gesetzt.
Und nun fährt er am Fluss entlang, so lange, bis er wieder umfällt.
Seine Hände krampfen sich immer wieder zusammen, er zittert, heftig, sagt, sein Herz tue weh, steche, tue sehr weh, er wolle so nicht mehr leben.
Ich sage „ganz ruhig“ und „alles wird gut“.
Nichts wird mehr gut für Alfons Hauser.
Der Rettungswagen kommt, vier Sanitäter, drei junge Männer, eine junge Frau; sie sind schon bei uns, mit Schreibblock und rotem Formular der eine, mit grünen Gummihandschuhen die andere. „Hallo Herr Hauser“, rufen sie, „da sind Sie ja wieder!“
Herr Hauser richtet sich auf.
Eingesammelt wird er nun wieder und dann wieder hinausgeworfen.
Man finde nichts bei ihm, erzählte er. Keine Ursache, keine Krankheit.
Wer soll das denn auch bezahlen, einen Obdachlosen für längere, aufwendigere, teurere Untersuchungen im Krankenhaus zu behalten?
Herr Hauser wird versorgt. In anderen Ländern würde man ihn liegen lassen, da gibt es gar keine medizinische Versorgung für so jemanden wie Alfons Hauser. Er würde verrecken, am Straßenrand. Hier kommt ein Krankenwagen mit gleich vier Rettungssanitätern zu einem Obdachlosen.
„Sollen wir Sie jetzt mal mitnehmen?“, fragt einer der jungen Männer.
„Und mein Fahrrad?“, fragt Herr Hauser.
„Das können wir hier abschließen, und Sie holen es später ab“, sagt ein anderer.
„Ich bringe es ihm!“, sage ich darauf.
Alfons Hauser sagt, viele Leute hätten ihm schon sein Fahrrad gebracht, sogar die Polizei.
Die Sanitäter bedanken sich bei mir und sagen „Sie können jetzt gehen“.
„Und das Fahrrad?“, frage ich. „Das kriegen wir schon hin, das nehmen wir schon irgendwie mit“, antwortet der Sanitäter und nickt mir freundlich und mit Nachdruck zu: „Sie können jetzt gehen!“. Einer fragt noch eben, ob ich denn gesehen habe, wie Herr Hauser hinfiel.
Ich erzähle, was ich gesehen habe, die Sanitäter nicken. Was tut es denn schon zur Sache?
Sie wissen genug, um ihn aufzusammeln. Er bleibt ja nicht lange.
Zum Bleiben gibt es für Schwestern und Brüder wie Alfons Hauser keinen Platz in unserer Wohlstandswelt – auch nicht, wenn man einmal nachrechnen würde und herausfinden, dass so ein Platz billiger wäre als die täglichen Rettungseinsätze. Doch was wäre das dann für ein Platz, im Altenheim, in der Obdachlosen-Unterkunft, in einer Wohnung, ob reich oder arm, ganz alleine?
Ich nehme mein Fahrrad und entferne mich von der Unfallstelle. Drehe mich noch einmal um. Herr Hauser zwischen den Rettungssanitätern, die sich um ihn kümmern. „Ich will so nicht mehr leben“, höre ich ihn sagen.
Ich will bei Alfons Hauser bleiben, seine Hand halten und nicht den Krankenwagen holen. Soll er sterben, dort am Fluss! Endlich einen Platz finden zum Sterben und jemanden, der seine Hand hält, wenn er stirbt.
Dann hebe ich ihm ein Grab aus in der Wiese, dort, wo er zum letzten Mal hinfiel.
Ein Geistlicher kommt auf diese Wiese am Fluss, es duftet nach Gras und Blumen.
Der Geistliche hält die heilige Kommunion für Bruder Alfons.
Einige Brüder und Schwestern sind auch gekommen. Die meisten kennen den Verstorbenen von seinen Stürzen; sie haben ihn aufgehoben, den Krankenwagen geholt und ihm sein Fahrrad ins Krankenhaus gebracht.
Wir werfen Erde in das kleine Grab, jeder eine Schaufelspitze voll.
„Erde zu Erde, Asche zu Asche und Staub zu Staub“, spricht der Geistliche.
Dann verschließt er das Grab. Wir stellen ein selbst gezimmertes, einfaches Kreuz darauf.
Hier ruht Bruder Alfons. Der Fluss war sein Zuhause.
Zuletzt segnet der Geistliche das Grab mit Wasser von diesem Fluss, und wir singen die Sonnengesänge von Franz von Assisi:
„Gelobt seist Du, mein Herr durch Schwester Wasser“.
Dann gehen wir nach Hause.
Schon wenige Jahre später sieht man am großen Fluss ein neues Mausoleum entstehen; viel größer als jenes, das schon ein Stück weiter flussaufwärts steht.
Das neue Mausoleum wird auf einem naturbelassenen Stück Wiese stehen. Nur der Weg dorthin wird gepflastert sein. Das Mausoleum wird mit italienischem Marmor ausgekleidet sein und goldverziert.
Er war uns allen ein Vorbild, wird eingemeißelt unter der Büste des Bruder Alfons stehen, der zu uns herablächelt. Voller Milde und Demut, umringt von Statuen barbusiger Frauen mit ebenmäßigen Gesichtszügen und Blumengirlanden.
gestern, morgen, heute – und wir gehen nach hause