Fräulein Pikante

Fräulein Pikante hatte einen ehrgeizigen Plan: Sie wollte mit Hilfe der „Neos Demokratos“ die Macht erobern. Nicht die Macht im Lande, das kam vielleicht später. Erst einmal ging es um die Macht an der Schule, die Macht über das Kollegium und den Lehrplan. Wie passend, daß die Aufsichtsbehörde die Schule damit erschreckte, aus der Weltstadt Petit Paris, seit Jahrhunderten bekannt für seinen Handel und Trödel, aufs Land zu verschicken, in die Provinz, in ein entlegenes Kuhdorf. Der alte Directeur, der dem Weiß seiner Haare nach kurz vor der Pensionierung stand (der Eindruck täuschte, er hatte noch etliche Jahre bis dahin abzuleisten, der Dienst färbte ihm die Haare weiß) hatte die Kollegen treubrav von den Sandkastenspielen der Behörde unterrichtet und dabei nicht seine Ohnmacht der Obrigkeit gegenüber verschwiegen. Die Ehrlichkeit sollte ihm zum Verhängnis werden.

Fräulein Pikante gründete die Partei „Neos Demokratos“, die in Wirklichkeit keine Partei war, sondern ein loser Wählerverein für die kommende Schulwahl, auf der das Directeurspöstchen neu bestimmt wurde. „Neos Demokratos“ bediente sich der üblichen Mittel, die dazu dienen, die Mehrheit zu ergattern, und sich der rechtlichen Prüfung entziehen: Absprachen am Telefon, Gespräche in Cafés und vor allem üble Nachrede über nichtanwesende Kollegen in der Mensa. Das Ergebnis war eine veritable Spaltung des Kollegiums. Die neue „Hausmacht“ reichte Fräulein Pikante, um die Wahl zu gewinnen – 6 zu 4, eine Stimme Mehrheit. Nach der Wahl begann die Qual, denn nun galt: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Kampfspruch der Haudegen, die von „Demokratie“ schwätzen und „ich“ meinen – natürlich im Namen aller.

Wer behauptet, er wolle niemanden ausschließen, hat mit Sicherheit die ersten Leichen im Keller gebunkert. So funktionierte es in der deutschen „demokratischen“ Republik und in der „demokratischen“ Republik Kongo: Beschwörung der „Demokratie“, um die Willkür zu bemänteln, „Demokratie“ als die Verschleierung der Tatsache, daß die Mehrheit von der Mitbestimmung ausgeschlossen wird, indem man ihr den Glauben schenkt, sie könne mitbestimmen. Der Diktatur der Rassen hatte die Demokratie als Steigbügelhalter gedient, die Diktatur der Klassen hielt sich für die Vollendung der Demokratie. Doch das war alles Geschichte. Hieß es nicht, wir hätten damals im 20. Jahrhundert zwei Diktaturen zu erleiden gehabt. Die Demokratie, die wir jetzt hatten, war eine Diktatur der Massen. Des Massengeschmacks. Es regierte der Durchschnitt, das Verkäufliche, Absetzbare. Fräulein Pikante versprach schon etwas Neues: Nach den Rassen, Klassen und Massen verkündete sie die Diktatur der Blassen. Mit Schönreden würde sie Wunder bewirken.

Auf dieser Klaviatur vermochte Fräulein Pikante vorzüglich zu spielen. Übrigens war sie kein Fräulein mehr, sie hatte bereits eine halbwüchsige Tochter, besaß dazu aber keinen Mann, was bei der Fräuleinhaftigkeit ihres Gebarens niemanden wunderte, aber niemanden abhielt, sie zur Provinzfürstin zu küren, die der Verlegung der Schule in die Provinz Einhalt gebieten sollte. Für diese Unternehmung spannte sie die gleichen „demokratischen“ Kräfte ein wie einst für ihren (knappen) Wahlsieg. In der Mensa und im Café redete sie so übel sie konnte von der Ministerialdirigentin, die der Aufsichtsbehörde vorstand. Im Gespräch mit ihr aber verteilte sie Honig, benutzte alle psychologischen Tricks, zu täuschen und sich einzuschmeicheln, die ihr zu Gebote standen. Und tatsächlich fand sie rasch heraus, daß es gar keine ernstgemeinten Verlegungspläne gab, die die Schule aus Petit Paris in die Provinz befördern sollten. Es gab nur Überlegungen, Erwägungen und die allgemeinen Sparzwänge – das war aber noch lange kein Handlungsplan. Das Beste sei es, nichts zu tun, sagte Frl. Pikante im kleinen Kreis. Vor versammelter großer Runde blies sie lautstark ins Horn, man müsse sich wehren, protestieren und die eigenen Fähigkeiten preisen. Hochglanzprospekte wurden gedruckt, Verbündete in der Kommune rekrutiert, die Schüler wurden für eventuelle Demos in Stellung gebracht – die „Neos Demokratos“ entfaltete Schlagkraft.

Marquis de Passade
geb. am 2. Juni 1940 in Triest, slowenischer Adliger mit französischen Wurzeln, wurde bekannt dank ei-ner Reihe kirchenfeindlicher und philosophischer Essays, die er im Gefängnis schrieb. Nach seiner Ent-lassung wanderte er aus und nahm eine halbe befristete Stelle an einer deutschen Hochschule an, um die Sadismen des akademischen Prekariats zu studieren. Passades Werke nehmen Kritiken am effizienzbasierten Studium vorweg, dessen Auswirkungen erst mehr als ein Jahrhundert später im Niedergang des westlichen Zivilisation sichtbar werden.

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