Günstige Bedingungen

Es scheint, als sei es der Natur wesensimmanent – das Warten auf günstige Bedingungen. Wobei natürlich(!) der Begriff des Natürlichen an und für sich hinterfragungsbedürftig ist. Wenn wir das Natürliche etwas trivial mit dem Biologischen gleichsetzen, so finden wir überall im Kosmos den Zustand des Vorläufigen. Und Orte, an denen das Vorläufige bereits in den Zustand des Tatsächlichen übergegangen ist. Eine Kaffee-Freundin berichtet von der Palme im Wohnzimmer, deren Wachstum durch das schwülwarme Wetter offenbar kräftig angeregt wurde. Neuerdings hat die Palme die Gewohnheit angenommen, im Übermaß Blätter zu entrollen, ein Programm, das unter hoher Luftfeuchtigkeit und dunstigem Himmel zu einem temporär raschen Ablauf animiert wird. Der Freundin scheint dieses üppige Wachstum allmählich unheimlich zu werden. Recht hat sie. Auch Thomas Mann schreibt im Zauberberg von einem Bazillus, der sich ausbreitet, sofern ihm ein Körper günstige Bedingungen bietet. Und kein Emporkömmling des Organischen strebt per se danach, die einmal gefundene Komfortzone wieder zu verlassen. Der Grundsatz von der Trägheit aller Materie hat nicht nur im Physikalischen, sondern auch im Biologischen seine Gültigkeit. Aber was, wenn die Pflanze sich durch die Wand bohrt? Hier droht sich das Natürliche ins Unheimliche zu steigern – eine tektonische Verschiebung. Alles ins Übermaß gesteigerte, so die Freundin, gehöre in den Bereich des Unheimlichen. Während sie das sagt, schaue ich ab und zu aus dem Fenster. Der schwefelgelbe Himmel heute abend weicht von der auf diesem Planeten üblichen Himmelsfärbung ab –  zumindest von der mitteleuropäischen. Ich weiß meine Komfortzone zu schätzen. Durch den Anblick der gelben Himmelsfarbe erfährt die Verbindung von Exotismus und Ästhetizismus in meinem Gehirn wenigstens eine auffrischende Anregung. Auch das Alien hat lange in seinem Kokon warten müssen, bis die Bedingungen günstig wurden. Wenn mancher meint, dass Benutzung die Qualität erhöht, so ist möglicherweise auch die Zähigkeit des Wartenkönnens ein Zeichen von Lebenstüchtigkeit. Hoffen wir, dass die Umgebung, in die es sich eingenistet hat, auch die passende Komfortzone ist – wohltemperiert und etwas dunstig.

7 Kommentare

  1. auf ein günstiges päuschen musste ich warten, um ihre bedingungen zu kommentieren. was sich hier entfaltet, darf getrost am wochenende im berliner tagesspiegel stehen und herrn martenstein konkurrenz machen (was eh zeit wird!!!). lediglich in einem punkt möchte ich widersprechen: „Und kein Emporkömmling des Organischen strebt per se danach, die einmal gefundene Komfortzone wieder zu verlassen.“ – nun, ich kenne zumindest einen organischen emporkömmling, der gern eine komfortzonne anstrebt und sie – nach vollbrachter arbeit – verlässt…:-)
    PS: meine liebe, wollen sie im ernst absolution für die trägheit in ihrem lebenskonzept nach dem motto: „ich bin gar nicht träge, ich kann nur zäh warten.“ herrlich! endlich mal ausreden mit niveau!

  2. Die Stunde des schwefelgelben Himmels überstehn, dazu noch offnen Sinns und klaren Hirns, wer sagt, daß das nicht lebenstüchtig ist.

    Auch Fabre war ein Meister des Verharrens. Und des Wartens. Erst mit fast 60 fand er seine Komfortzone, seinen „Harmas“. Dort schrieb er dann, noch 30 Jahre lang, tausende Seiten. ( Nur der dramatische Gerhart Hauptmann stach ihn aus bei der Verleihung des Literatur-Nobelpreises 1912 ).

    Und Fabre sprach:
    „Es ist etwas spät, meine schönen Insekten ! und ich fürchte beinahe, daß mir der Pfirsich erst dargeboten werde, nachdem mir die Zähne zu fehlen beginnen, um ihn zu essen.“

  3. alles ins übermaß gesteigerte gehört in den bereich des unheimlichen? das kommt auf die sichtweise an.. wenn morgens die behandschuhten hände nach mir greifen, die wahrlich übergroß sind, und mir mit einer noch größeren spritze einen knockout verpassen, ist das schon nicht mehr unheimlich, sondern durchaus real..

  4. „tektonische Verschiebung“ und „die Inskriptionen traten in das Zeitalter der Aufklärung ein“ (Jens Rosch, Sommerfest 2012). Darf ich Ihre Gedanken ausspinnen, lieber Jens Rosch, und anmerken, dass das Groteske, Unheimliche und scheinbar Unvereinbare als Vorläufiges in der detailversessenen Präzision des Aufklärerischen lauert? Es scheint…

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