Laut singen

Eine Melodie kreist in seinem Kopf. Sie entsteht aus dem Rhythmus des Atems, während er durch die Stadt läuft. Sie kommt nicht von ihm und nicht aus dem Nichts. Vielleicht von dort, wo sich ohne sein Zutun Honig in Sehnsucht verwandelt, die Sehnsucht in Bewegungen der Füße. Vom Boden unter seinen Füßen, den er nicht sieht. Eine kleine Melodie, Anfang und Ende passen genau ineinander, das treibt ihn vorwärts. Als er sie halblaut zu singen beginnt, blicken sich die Leute nach ihm um. Wahrscheinlich rufen sie bald die Polizei oder den Rettungswagen. Er könnte jemanden verprügeln oder um sein Vermögen bringen, er könnte im Frauenkleidern herumlaufen oder bewaffnet und in Uniform. Alles kein Problem. Aber laut singen?
Niemand kommt und verhaftet ihn.

eisenhans
Martin Jankowski: geb. 1965 in Greifswald, lebt in Berlin. Songs, Gedichte, Essays, Erzählungen, Roman. Zuletzt göttliches vergnügen auf erden und kosmonautenwalzer (Lyrik, beide aphaia Verlag 2014).

Ein Kommentar

  1. gestern erst, am leipziger hauptbahnhof, wurde laut gesungen, es erinnerte mich an meine wolfenbüttler kindheit und den blumenotto auf der parkbank. wozu knallkanonen, wenn wir musik in den beinen haben? wunderbarer text.

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