Alte Sünden (2): Raserei

Den teuren Toten. Im leisen Nachhall der Luft, aus den straffen Zügeln einer Verbeugung, bin ich emporgewachsen, bin ich im Innern des pelzigen Zeichens dreifingerdick zusammengepreßt. Ohne alle Rücksicht rase ich vorwärts, durchquere gigantische Weiten mit kosmischer Geschwindigkeit, passiere Salzsterne und Neutronenhäuser, nehme drei Umläufe gratis bei Jupiter in der Hoffnung auf Blitze, wie sie funkelnd aus Plutos Haar purzeln am Fuße der Wadenwickel, postolympisch überhöht im Fieberglanz des Krankenbettes. Die Sonne einer Pupille winkt mit verzerrender Geste, Sonne bei Nacht, wenn das ganze Universum im Innern eines salzigen Wassertropfens Platz findet, wenn die Augen feucht und geschlossen sind, wenn die übermäßige Fußsohle des Tiefschlafs mit feurigem Schweigen über mich hinwegschreitet.

Auf dem Friedhof ist es dunkel. Nachtvögel zwitschern in Zweigen, als sei gerade ein neuer Tag angebrochen, als habe der hochgradige Schwerkraftverstärker des Abends seine Vakuumlungen vollgesogen mit dem süßsauren Frühlingsextrakt verblühender Weiden im Herbst, verglühenden Grases am Koppelzaun. Da zwitschern sie zwischen den Sternen, werfen das schwarze Wollknäuel der Zuwendung hin und her, hin und her – machen den Himmel dicht und noch dichter, als er seit Menschengedenken ohnehin ist. Nachtvögel gebrauchen das dunkle Feuer ihrer Lungen nicht für Gesang, der Erleichterung bringt: nicht für die zarte Berührung erlöschender Sehnsucht im Wendepunkt des Vergessens. Nachtvögel verschwenden die Kraft ihres Schweigens für den kurzen, für den einmaligen Blick, mit dem eine Schlange ihr Opfer fesselt, wenn die Bewegung der Augenmuskeln im Rattern des Herzschlags erstickt, wenn der Klang sich auflöst im grimmigen Lächeln der Trommelfelle, wenn er unmißverständlich signalisiert, daß ich gefangen bin im Innern einer Glocke von der Größe dieses Planeten.

Die Erschütterung an den Schuhen ist nur Echo des wankenden Körpers: Schwarze Krumen zerbrechender Planken gleiten oben und unten vorbei; Ströme blendender Nachtmilch rinnen durch meine Kehle. Im Strudel der Erscheinungen bin ich selbst nur Erscheinung. Meine Augen durchzogen von Blattgerippen, grüne Luft auf den Deckeln der Kübel. Kisten vernagelt und Kisten zerbrochen, bin ich selbst aus Holz wie die Bäume. Meine Äste durchziehen das Erdreich, meine Wurzeln durchziehen das Luftreich; auf dem Rücken einer Fontäne reite ich weit hinunter bis an die Wasser aus Erdöl. Bin ich erschöpft, schmiere ich Asche in mein Kohlegesicht. Bekomme ich keine Luft mehr, wird die Beklemmung bestürzend – gebäre ich Knallgas, um frei zu sein.

Wieder stehengeblieben, wieder und wieder. Flutwellen sterbenden Lebens
quellen aus diesem Boden hervor, fluten die Wiesen, feuchten die Augen. Wo Blumengebinde den Händen entgleiten als über und überventilierte Räume des Erinnerns – von Reif überzogen – sind mir die Hände gebunden. Jedes Noch-Nicht ein Nicht-Mehr, jedes Bild des Gewesenen ein Blitz in der Hirnhaut. Die Erschütterungen des Planeten auf seiner langgestreckten, auf seiner gebogenen Umlaufbahn fahlgrau kondensiert in den blutroten Krampf eines Muskelzuckens, nicht jetzt und nicht hier.

Zhenja
Künstlername des aus Südrußland stammenden Dichters Jewgeni Sacharow; hob unter nickname Zhenja 2007 gemeinsam mit Gesche Blume und Viktor Kalinke den literarischen Blog www.inskriptionen.de aus der Taufe. Das seit 2009 verwendete Pseudonym stand dabei zunächst Pate für eine Reihe von Versuchen, sich zugleich die Bild- und Klangsprache des 1922 verstorbenen futuristischen Dichters Viktor Vladimirovic Chlebnikov und die Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschen als literarischer Nichtmuttersprache zu eigen zu machen. Zunehmende Vermischung eigener Sprachschöpfungsprozesse mit dem Ideenfundus des russischen Avantgardisten bis zur „non-rem-fusion“. Sacharow lebt und arbeitet seit 2008 als Garderobier und freischaffender Autor in Frankfurt am Main. Projekt der beiden in Deutschland ansässigen russischen Dichter Jewgeni Sacharow und Sascha Perow, „Brüder im Namen“. Jewgeni beschäftigt sich seit 1990 mit Drama in - wie er es nennt - Außenprojekten, ich dagegen (Perow) versuche mich gelegentlich an Übersetzungen aus dem Russischen; mein Ziel: Erschaffung eines neuen Dialekts der Weltpoesie, der „Sternensprache“. Wichtig war für unser Inskriptionen-Doppelleben die Begegnung mit der deutschen Dichterin Hanna Fleiss im Winter 2012 in Berlin.

Schreib einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert