Meine liebe Tochter …

Bad Glitzow, den fünfzehnten September 1900.

Meine liebe Tochter,

eigentlich hatte ich heute gar nicht so recht Lust, Dir zu schreiben. Denn was Dein Vater heute wieder abgesondert hat, vermiest und verpestet die Stimmung im Hause ganz gemein. Heute in der Früh fing er schon wieder an, mich mit den Tabletten von Dr. Lauschmann zu traktieren. Ich solle es doch mal versuchen, nur auf den Versuch käme es an, der Frau Schönborn habe es auch geholfen, die Libido sei nach kürzester Zeit gesund und frech zurück gekehrt, sie sei wieder wie ein junges Mädchen, und ihr Gatte sänge Lobeshymnen auf ihren erfrischten Geist. Ich entgegnete ihm, es ginge ihm dabei doch nicht primär um mich, sondern in erster Linie um die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse. Worauf er entnervt die Zeitung auf den Tisch knallte und sagte, Emma, sagte er, das geht uns beide an. Seit Monaten kein liebes Wort, kein Eheleben mehr, es ist zum Verzweifeln … Da wurde auch ich lauter. Carl, rief ich, Carl, deine Kunst als Liebhaber gilt es zu überprüfen in der Sache, und das erledigt sich nicht, indem du mir ein paar Tabletten einflößt. Ja, ich weiß, ich esse zu viel Kuchen. Aber ich würde sofort damit aufhören, wenn du einsehen tätest, es liegt nicht nur an mir. Du musst dazu lernen. Lernen, wie man sich einer Frau – auch der Ehefrau – nährt, auch Lauschmann hat dies zu bedenken gegeben …

Nun siehst Du, was hier schon wieder los ist. Die Nachbarin ist recht großzügig und brachte drei Hühner vorbei. Leider müssen sie noch gerupft und ausgenommen werden. Dein Vater ist schon wieder ins Herrenzimmer verschwunden, weiß Gott, was er dort treibt. Es stinkt gewaltig nach dicken Zigarren, und auch der grüne Likör, den Tante Lena ihm zum Geburtstag geschenkt hat (worüber ich kein Wort verlor!), war gestern bei meiner Inspektion mit dem Stubenmädchen schon wieder bis auf eine kleine Pfütze leer.

Es grüßt Dich von Herzen und mit einem kleinen bisschen Wut im Bauch

Deine Dich liebende

Mama.

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