Kleiner Engpaß

Fern in Ostasien brach einst eine rheumatische Krankheit aus, die dazu führte, daß die Arbeiter ihre Ellbogen nicht mehr bewegen konnten. Auf den Fließbändern rauschten die Produkte unbearbeitet hinweg und fielen am Ende auf wilde Haufen. Niemand war in der Lage, sich darum zu kümmern. Die Gelenkschmerzen waren einfach zu groß. Die Arbeiter standen wie erstarrt an ihren Plätzen und verzogen die Gesichter. Die Bilder gingen um die Welt, ihr erinnert euch… Zum Glück war die rheumatische Ellbogenerkrankung keine Pandemie – sie blieb auf das ferne Ostasien beschränkt, auch wenn sie dort das ganze Land lähmte. Die Arbeiter zogen es vor, sich in die Parks zu begeben und mit Qigong, Kongfu und Taiji die Gelenke allmählich wieder zu lockern. Davon sahen wir keine Bilder… Hierzulande waren alle heilfroh, daß das Ellbogen-Rheuma nicht über die Ländergrenzen hinwegschwappte, hatten wir doch noch genug mit den Folgen der letzten Pandemie zu tun, die Schwellungen und Blasen im Gesicht hervorgerufen hatte und dank der gesichtsbedeckenden Heilpflaster nun wirksam „eingedämmt“ war, wie es hieß. Wir schnappten uns also unsere Pflaster und wollten uns gerade ins Auto schwingen, um ins nahe gelegene Umland in den Jahresurlaub aufzubrechen – da bekamen wir es doch mit den Folgen des Ellbogen-Rheumas zu tun: der Stillstand der fernöstlichen Fließbänder unterbrach die „Lieferketten“. Was ist denn das? Haben sie etwas mit Radfahren zu tun? Na, nicht ganz: Es kam kein Nachschub mehr und es fehlte plötzlich an allem. An den Anblick halbleerer Regale hatten wir uns längst gewöhnt und waren im Grunde nicht sehr überrascht. Der Engpaß betraf nun die Gurte, ja richtig, die Anschnallgurte in den Autos konnten nicht mehr eingebaut, repariert und ausgewechselt werden. Über die Fernsehbildschirme flackerten am folgenden Tag die finster dreinblickenden Gesichter der Minister, aufgelockert nur von einer lächelnden Ministerin für Gesundheit, die mit ihrem tieflila Kleid für einen dezenten Farbakzent zwischen den schwarzen Zwei­reihern sorgte. Das Wort führte der Verkehrsminister, dessen buschige Augenbrauen dunkel über die Stirn stachelten: „Anschnallgurte im Auto“, sprach er langsam, um seinen Worten Gewicht zu verleihen, „Anschnallgurte dienen im Auto der Sicherheit. Daher heißen sie in der Fachsprache auch Sicherheitsgurte. Die Regierung wird alles Erdenkliche tun, um den Mangel an Sicherheitsgurten so schnell wie möglich zu beheben.“ Damit endete seine Rede, und er blickte sich fragend in der Ministerrunde um. Bevor die Schweigepause unerträglich wurde, meldete sich der Innenminister zu Wort. Sein schlohweises Haar zeugte von Weisheit, was hatte er in seinem langen Berufspolitikerleben nicht alles schon beobachten müssen. Ein Engpaß bei der Lieferung von Sicherheitsgurten war aber noch nie passiert. Schnell ergriff er das Wort: „Liebe Bürgerinnen und Bürger, zu Ihrer Sicherheit wird heute im Innenministerium das Sicherheitskabinett tagen. Wir werden Beschlüsse fassen, die zu Ihrer Sicherheit bei fehlendem Sicherheitsgurt beitragen werden.“ Nun wurde es schwarz auf den Fernsehbildschirmen, der Ton aber war weiterhin zu hören. Es erklang der Trauermarsch von Chopin, ihr erinnert euch, diese schöne Melodie, zu Stalins Beerdigung wurde sie zum letzten Mal im Rundfunk ausgestrahlt. Endlich durften wir sie wieder hören. Zur Einstimmung auf die Millionen Verkehrstoten, die ohne Sicherheitsgurt mit Sicherheit einem qualvollen Ende auf der Autobahn oder in einer viel zu schmalen Landstraßenkurve entgegen sahen. Wir konnten uns die künftigen Bilder des drohenden Leids bereits vorstellen: zwischen die splitternde Frontscheibe und dem geborstenem Lenkrad eingeklemmte Köpfe mit halb geöffneten röchelnden Mündern. Natürlich floß Blut über all diese Szenen, kein Ketchup odr Theaterblut, sondern echtes wohlgemerkt. Die Titelseiten der Zeitungen würden voll davon sein. Eine schreckliche Perspektive. Unbedingt mußte verhindert werden, daß es soweit kam. Am folgenden Tag, kurz nachdem sich das Sicherheitskabinett zusammen gefunden hatte, trat der Innenminister wieder vor die Kamera. Diesmal war er allein und trug einen tiefblauen Anzug, der seinem schlohweisen Haar noch mehr einen Hauch von Weisheit verlieh, während das Anzugblau kosmisch in höhere Sphären zu strahlen schien. Seine Beliebtheitswerte in der Bevölkerung wuchsen bei diesem Anblick sprunghaft. Ach, könnte die Wahl nicht rasch auf heute vorgezogen werden, dachte der Innenminister im Stillen. In die Kamera aber sprach er: „Liebe Bürgerinnen und Bürger, wir haben sehr gründlich und alle Seiten bedenkend und abwägend im Kabinett beraten und beschlossen, den Autoverkehr in unserem Land solange zu untersagen, bis wieder Sicherheitsgurte geliefert oder hierzulande hergestellt werden können. Sicherlich liegt auch Ihnen allen die Sicherheit eines jeden Autofahrers am Herzen, ob er nun noch über einen alten Sicherheitsgurt in seinem Fahrzeug verfügt oder ohne Gurt fahren müßte. Wir zeigen uns solidarisch! Wir gehören zusammen! Daher ist es nur billig und recht, wenn auch die Autofahrer, die noch einen Gurt haben für die Dauer des Engpasses auf das Autofahren verzichten. Nur so kann die Sicherheit aller gewährleistet werden. Sicherlich können Sie diese Sicherheitsmaßnahme verstehen. Um Sie in Ihrer Einsicht in die Notwendigkeit zu unterstützen, hat mein Ministerium mit sofortiger Gültigkeit eine Rechtsverfügung erlassen. Da die Abgeordneten aufgrund dieser Verfügung nicht mehr ins Parlament fahren konnten, haben sie freiwillig auf ihr Stimmrecht verzichtet und stimmen für die Dauer des Engpasses bereits vorsorglich allen Entscheidungen der Regierung zu. Die Verfügung lautet: ‚Ab dem heutigen Tage und auf unbestimmte Dauer ist das Führen eines Automobils untersagt. Ausnahmen können beim örtlichen TÜV beantragt werden.’ Ich wünsche Ihnen allen eine sichere Zeit, bleiben Sie gut zu Fuß!“ Mit diesen Worten verabschiedete sich der Innenminister, setzte sich ein grünes Filzhütchen mit Feder auf das schlohweise Haupt und warf sich eine ebenso fichtennadelgründe Joppe mit Hornknöpfen über die Schultern. Er schickte sich – ein Vorbild wollte er dem Volke sein – zu einer Wanderung an. In seinem Alter! Da schwenkte die Kamera weg. Wieder hörten wir Chopin, diesmal sahen wir sogar das Orchester spielen.

Da saßen wir nun mit unseren gepackten Koffern vorm Auto, wollten eigentlich raus in die Heide vor der Stadt, der Jahresurlaub lockte. Jetzt war uns das Autofahren verboten worden. Betrübt blickten wir uns an und verfolgten, was um uns herum geschah: Wie von Zauberhand gestoppt, blieben die eben noch rollenden Fahrzeuge stehen, wo sie gerade waren. Die Insassen stiegen aus und wie von Zauberhand ausgestattet, trugen sie alle einen knorrigen Wanderstab in der Hand. Filzhüte mit Federn und Joppen mit Hornknöpfen waren wieder in Mode gekommen. Alt und jung, alles schleppte sich, lief und schlurfte auf den autoleeren Straßen hinaus aus der Stadt. Offenbar hatten alle den gleichen Gedanken: ‚Jahresurlaub! Raus in die Heide!’ Wir waren nicht allein. Der Innenminister behielt recht: Alle zeigten sich solidarisch. Die Schüler, die einst an freitags die Schule geschwänzt und  gegen die Luftverschmutzung demonstriert Schule hatten – habt ihr das etwa schon vergessen, manche von ihnen bekamen Disziplinarstrafen und Verweise wegen des Fernbleibens von der Schule, manche Eltern mußten wegen ihrer umweltbewußten Zöglinge mit Ordnungsgeld büßen, bevor der Staat dankenswerterweise für alle die Schulpflicht aufhob, aber das ist eine alte, lange zurückliegende Geschichte, ich habe sie, glaube ich, von meiner Oma gehört… – die freitags einst schwänzenden Schüler jubelten. Sie klatschten Beifall und trugen den Innenministern über ihren Köpfen auf Händen in den Wald. Auch die Gewerbetreibenden und Einzelhändler waren begeistert: Soviel Laufpublikum hatten sie seit Jahrzehnen nicht mehr gesehen. Die Zulieferer in den „Lieferketten“ hatten für ihrer LKW-Fahrer schnell Ausnahmegenehmigungen beim TÜV besorgt. Damit dem Volk nicht auffiel, daß der Lastwagenverkehr ungehindert weiter rollte, wurde er in die U-Bahn-Tunnel verlegt. Alle erfreuten sich an den freien Tagen bei sauberer Luft in der nahen Umgebung, unserer schönen, blühenden Heide. Nur die alleinerziehenden Mütter, diese undankbaren, egoistischen Elemente, die es gewohnt waren, ihre heißgeliebten Sprößlinge im Van zum Klavierunterricht, Tennis oder Freibad zu chauffieren, stöhnten laut auf. „Was sollen wir tun?“, riefen sie, und formierten sich in ihren gepanzerten Limousinen zu einem Autokorso, der laut hupend vor dem Innenministerium demonstrierte. Doch der Minister lag längst auf einer Lichtung im Wald zwischen Blaubeersträuchern, die auf seinem tiefdunklen Anzug, den er unter der Filzjoppe trug, nicht einmal Flecken hinterließ. Ach, träumte er, hätte nicht heute schon Neuwahl sein können?, dachte er träumend, während sein Blick sich in persilweißen Schäfchenwolken verlor. Da wurde er von einer Fahrradklingel auf seiner Waldlichtung aufgeschreckt. Eine der egoistischen, nur auf den eigenen Nachwuchs bedachten, alleinerziehenden Mütter war vom Auto aufs Rad umgestiegen und dem Innenminister tief in den Wald gefolgt. „Hätte, hätte Fahrradkette“, krähte ein Dreijähriger von seinem Kindersitz in die Ohren des Ministers. Dann fügte der Dreijährige haspelnd hinzu: „Hätte es nicht genügt, daß alle langsam fahren?“ Der Minister blickte sich um, wer ihm diese bahnbrechende Idee eingeflüstert hatte. Oder träumte er noch immer? Egal, morgen würde er wieder vor die Kamera treten und sie dem Volk verkünden. Von der Mutter mit ihrem dreijährigen Kind war nichts mehr zu sehen. Längst waren sie an der Lichtung vorbei durch den Wald hindurch geradelt.

Viktor Kalinke
geb. in Jena, Studium der Psychologie und Mathematik in Dresden, Leipzig und Beijing, Kreativitäts-Preis der Hans-Sauer-Stiftung, Mitbegründer der Edition + Galerie Erata, Promotion, Professur, lebt in Leipzig.

2 Kommentare

  1. „Und nach wie vor gilt als oberstes Gebot: Abstand halten! Mindestens 1,50 Meter, auch
    mit Mund-Nasen-Bedeckung.

    Die allermeisten halten sich an die derzeitigen Regeln. Vereinzelt mussten wir aber
    immer mal wieder beobachten, wie z.B. Mitarbeitende von der Seite „angesprungen“,
    Einkaufswagen stehen gelassen oder Schwätzchen im Halbmeter-Abstand gehalten werden. „

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