Von einer Brutpflegerin, die sich einsam im Sand eine sonnige Stelle gesucht hatte, hörten wir heute Mittag folgende Geschichte: Unser Volk hatte an einem Fußweg, der sich zwischen Wald und Feld hindurch schlängelte, seinen Hügel errichtet. Wir waren – wie alle Ameisenvölker – fleißig, hatten den Bau bereits mehrfach umgeschichtet und weitergetragen, an sonnigere und ruhigere Plätze. Seit sechzehn Jahren wurde unser Staat von einer klugen Königin regiert. Sie legte ausdauernd in jedem Frühjahr zwei- bis dreitausend Eier, damit es unserem Hügel gut ging.
Im Laufe ihrer langen Amtszeit hatte die Königin schon zahlreiche Unwägbarkeiten erlebt. Ihre größte Herausforderung war einst eine Milbenart namens Antennophorus. Diese stammte aus einem entlegenen Tal im fernen Kunlun-Gebirge. Jene seltsamen Tiere, die auf nur zwei Beinen herumstaksen – unsere geflügelten Männchen bemerken sie in letzter Zeit immer häufiger in der Nähe unseres Hügels – hatten die Milben in einem Ding, das sie Flugzeug nennen, mitgebracht. Die Milben kitzelten uns Brutpflegerinnen im Bau, streichelten unsere Fühler und irritierten uns, so daß wir nicht aufhören konnten zu kichern, unsere eigentliche Aufgabe vergaßen und stattdessen tröpfchenweise eine zähe, weißliche Flüssigkeit absonderten, an der sich die Milben labten.
Ihr könnt euch vorstellen, wie erschüttert die Ameisenkönigin war, als sie ihre wertvollen Eier ungepflegt in den Brutkammern herumkullern sah, während wir Brutpflegerinnen auf dem Rücken lagen, mit den Beinchen strampelten und grinsten. Eilends befahl die Ameisenkönigin, an einen sonnigeren Ort umzuziehen, denn Wärme behagte den Milben nicht, ab 27 Grad konnten sie nicht einmal mehr schlüpfen.
Emsiges Treiben begann und über Nacht war der ganze Ameisenstaat mitsamt seiner 80 Millionen Bewohner auf eine höher gelegene Lichtung umgezogen, eine Lichtung, die von jenen Zweibeinern neulich geschlagen worden war – sicherlich um mehr Sonnenlicht, auf die Erde fallen zu lassen.
Diese Zweibeiner – ihr wißt sicherlich, welche merkwürdigen Lebewesen ich meine – waren von der Natur nicht gerade beschenkt worden: Wir haben sechs Beine, mit denen wir unglaubliche Gewichte eilends davon tragen können. Dabei benutzen wir vier Beine zum Trippeln, die anderen beiden zur Transportsicherung. Oben wackelt auf dem Rumpf der Zweibeiner eine Kugel, die sie Kopf nennen, aber nicht einmal um 360 Grad drehen können. Mit ihren beiden Augen – wie lächerlich im Vergleich zu unseren Komplexaugen – können sie sich gerade einmal grob in der Landschaft orientieren. Nicht einmal infrarotes und ultraviolettes Licht nehmen sie wahr. Ihr Geruchssinn ist beinahe völlig verkümmert. Deswegen müssen sie sich Hunde halten, eine Vierbeinerart, die in vielerlei Hinsicht den Zweibeinern überlegen ist. Die Zweibeiner benutzen ihren Geruchssinn nur noch zur Nahrungsaufnahme, um herauszufinden, ob etwas eklig schmecken würde, würden sie es in den Mund nehmen. Wir dagegen können tausende Duftsekrete aussondern, mit denen wir uns über weite Entfernungen verständigen. Vor allem aber fehlen den Zweibeinern die Fühler, ich meine unsere genialen Antennen, mit denen wir nicht nur tasten, riechen und schmecken, sondern auch die Lufttemperatur und den Luftdruck, ja sogar den CO2-Gehalt in der Luft feststellen können. Das überrascht euch, nicht wahr? Auch die Zweibeiner wollen all das nicht glauben und halten sich selbst für die Krönung der Natur. Tatsächlich besteht ihre einzige Begabung darin, kleine Schachteln zu erfinden, mit denen sie alles mögliche messen und zählen, was ihnen die Natur nicht vergönnt hat zu empfinden…
Kaum hatte die Königin unseren Staat glücklich auf die Lichtung umgesiedelt, wo wir den Milben besser begegnen konnten, drohte das nächste Ungemach: Im Herbst tauchten die Zweibeiner mit Fässern auf, aus denen sie einen schwarzen zähflüssigen Brei auf den Feldweg sickern ließen, wo er erstarrte. Ein paar Tage später rollten die Zweibeiner in Schachteln auf vier Rädern vorbei. Sie zischten geschwind auf der schwarzen Bahn entlang, beinahe geräuschlos, und verpesteten die Luft. Unsere Fühler verklebten, wenn wir in die Nähe der geräderten Schachteln auf der schwarzen Bahn gekrabbelt waren.
Unsere Königin war alt und weise, sie wiegte lange ihren Kopf von links nach rechts und von rechts nach links, ehe sie beschloß, daß wir – zunächst einmal – auf der Lichtung bleiben sollten. Seit langem schon überlegte unsere Königin, von ihrem Amt abzutreten und eine Jungkönigin heranzuziehen, damit frische Kräfte den Staat regierten. Die schwarze Bahn, die nun seit kurzem neben unserem Bau verlief, beunruhigte sie jedoch.
Daher trommelte sie fürs erste einen Beraterstab zusammen. Das heißt, sie versammelte alle geflügelten Männchen, die sich mit der Lage außerhalb unseres Hügels am besten auskannten sowie jeweils die fähigste Vertreterin der Brutpflegerinnen, Arbeiterinnen und Soldatinnen. Unter den Beratern befanden sich mehrere Experten für Milbenkunde – denn diese winzigen, beinahe unsichtbaren Parasiten – waren unser ärgster Feind. Außerdem gehörten Architektinnen und Bauingeneure, Ärzte und seit neuestem auch Forscher auf dem Gebiet der Anthropologie oder Zweibeinerkunde zum engeren Kreis um unsere alternde Königin. Was hielt sie davon ab, zum Hochzeitsflug zu blasen, die Männchen losflügeln zu lassen, um endlich eine der begabten Jungköniginnen zu begatten? Unsere Königin vermißte eine würdige, nein, eine fähige Nachfolgerin. Daher zögerte sie.
Vielleicht habt ihr noch nie davon gehört, daß Ameisenköniginnen von Natur aus mit einer besonderen Begabung aus dem Ei schlüpfen: Sie können instinktiv mit großen Zahlen umgehen, sie lernen weder das Permutationsgesetz noch Wahrscheinlichkeitslehre in der Ameisenschule – die Ameisenkönigin kommt mit diesem mathematischen Geheimwissen auf die Welt und stützt darauf ihre monogyne Macht über den Staat. Wie sollte sie ohne die Souveränität im Hantieren mit großen Zahlen den Umzug von 80 Millionen Individuen in einer Nacht dirigieren? Seit es Ameisen gab, also seit 130 Millionen Jahren, als von den Zweibeinern noch nicht mal ein Zwerg auf der Erde zu sehen war, beherrschen unsere Königinnen die mathematische Kunst.
Und unsere Königin hatte sie sechzehn Jahre lang kühl und konsequent bewiesen. Also würde es schon richtig sein, was unsere einzige Zahlenkünstlerin entschied, dachten wir – doch nun war sie sich selbst nicht mehr ganz sicher. In ihrem Expertenstab tummelten sich frische Geister, aufgeweckte und mit ihren Antennen hochsensible Berater – allein der Umgang mit dem Gesetz der Großen Zahl fiel ihnen schwer. Daher zögerte unsere weise und umsichtige Königin, den Hochzeitsflug auszurufen und eine neue Königin zu bestimmen.
Noch ließ uns der Winter in Starre verharren, da flüsterte ein besonders kecker und aufgeweckter Berater: „Antennophoren! Hilfe, Antennophoren, eine neue Art, wieder aus China herübergesegelt – Hilfe!“ Unsere Königin war noch im Winterschlaf versunken und regte sich erst einmal gar nicht. Keine Panik, dachte sie, was ist das für ein junger, aufgeregter Kerl, warten wir das Frühjahr ab. Die Tage vergingen, die Berater tuschelten und tauschten sich aus. Fast jeder hatte das berühmte Kribbeln auf den Fühlern verspürt, sie kicherten und kippten auf den Rücken, um mit ihren sechs Beinchen in der Luft zu zappeln. Zugleich war es ihnen überaus peinlich, denn in jedem Augenblick konnte die Königin erwachen, und sicher würde sie erzürnen, wenn sie ihr höchstes Gremium bei einer Kicherparty erwischte. Also knickten die Berater ihre Antennen ein, um nicht mehr so empfindlich zu sein und ganz besonders ernst drein zu schauen.
Die Verhaltensänderung zeigte Wirkung. Die Königin regte sich, krabbelte aus ihrer Kammer, sonnte sich ein paar Tage und begann mit ihrem Frühjahrsgeschäft, d.h. sie legte Eier – Dutzende, Hunderte, bis es in die Tausende ging. Die Berater waren weiterhin unruhig. Sie trauten der Sonne und dem schönen Frühlingswetter nicht, irgendetwas lag in der Luft – eine neue, bisher unbekannte Antennophorus-Art. Während die Königin noch ein Ei nach dem anderen aus ihrem Unterleib drückte und in die Brutkammer schob, wo das Arbeitervolk sie sortierte und wir Brutpflegerinnen unserer Arbeit nachgingen, bildeten die Berater einen geschlossenen Ring um die Königin und sonderten synchron den Duftstoff aus, der höchste Gefahr signalisierte. Nun hob die Königin langsam ihren Buckel, drehte ihren Kopf einmal um die Runde und fragte: „Was wollt ihr?“ – „Schütze uns, große Königin, schütze uns vor dem neuen, bösen Antennophorus, der sich in unseren Bau eingeschlichen hat und sich zu vermehren beginnt, während du Eier legst. Siehst du nicht, wie schwach die Arbeiterinnen und Soldatinnen schon sind? Manche wackeln auf ihren sechs Beinen, statt stabil und akrobatisch Überlasten umherzuschleppen wie sonst.“
Die Königin kroch durch den gesamten Bau. Auffällig war, das in einer Ecke tatsächlich ein paar Arbeiterinnen und Soldatinnen ausgestreckt herumlagen. Nicht die Müdigkeit hatte sie außer Gefecht gesetzt, bemerkte die Königin, diese armen Tiere röchelten – sie rangen um Luft. Wenn nichts geschah, würden sie sterben. Die Königin sandte geschwind drei geflügelte Männchen aus, die Umgebung des Baus von außen zu beobachten. Als sie zurückkehrten, war klar, daß es sich bei der gefährlichen Ecke um die Seite des Hügels handelte, die der seltsamen schwarzen Bahn zugewandt war, auf denen die Zweibeiner in ihren stinkenden Schachteln vorbeirollten.
Noch bevor die Königin erneut einen Umzug befehlen konnte, befand sich der gesamte Staat in heller Aufregung – die Berater hatten ihr Duftsekret, das höchste Gefahr durch einen neuartigen Antennophorus verkündete, bereits überall im Bau verschmiert: Es könne im schlimmsten Fall dazu kommen, daß nicht nur 2000 Ameisen wie sonst zu dieser Jahreszeit, nein sogar noch 30 Ameisen mehr pro Tag sterben müßten, noch einmal in Worten: dreißig Tag für Tag zusätzlich. Das hieß sicherlich, dachten wir, binnen kurzem würde unser Volk aussterben. So glaubten und verkündeten es unsere kecken und aufgeweckten Berater. Das Unglück war geschehen: Unsere alte, weise Königin hatte zum ersten Mal in ihrer langen Amtszeit das Gesetz der großen Zahl vergessen. Es gelang ihr nicht, uns zu beruhigen und Zuversicht zu geben, indem sie sprach: „Meine lieben Töchter und Söhne, 30 sind keine 2000.“
Nun wimmelten 80 Millionen Ameisen durcheinander. Die Brutkammern wurden von zahllosen Beinchen überkrabbelt und der Nachwuchs in den Eiern angekratzt. Nun mußte die Königin reagieren und die Notbremse ziehen: Sie befahl dem gesamten Volk, die Fühler einzuknicken, damit keine einzige Ameise, auch nicht die kleinste, jüngste, flügellose Arbeiterin von dem vermeintlichen Kitzeln des neuartigen Antennophorus irritiert wird.
Wir Ameisen nehmen Kontakt miteinander auf, indem wir unsere Antennen kreuzen. Dies war mit geknickten Fühlern nicht mehr möglich. Mit dem Antennenkreuzen verloren wir unsere kollektive Intelligenz, mit der wir eigentlich den Zweibeinern, wie die Naturgeschichte zweifelsohne zeigt, weit überlegen sind. Indem wir uns „betrillern“, so nennen wir den Kontakt durch Berühren, lösen wir die schwierigsten Transport- und Kommunikationsprobleme. Nun war die Betrillerung verboten. In Kürze fiel unser Bau auseinander. Die Halme und Stengel, die ihn einst kunstvoll zusammen gehalten hatten, wurden von niemandem mehr befestigt. Unser Volk lief mit geknickten Fühlern in alle Himmelsrichtungen auseinander. Die Königin blieb zurück. Doch sie war nicht alleine: ihre Berater umringten sie noch immer und blickten hoffnungsvoll zu ihr auf. „Wir müssen uns ein neues Volk suchen“, sprach die Königin ächzend, ließ sich Flügel wachsen, um in den Tiefen des Waldes nach einem anderen Ameisenhügel Ausschau zu halten, den sie auf ihre alten Tage noch regieren könnte.
Ich tippe mal auf die Merkel-Milbrat-Affäre von 2001. Glaube nicht, dass ich mich täusche. Damals wurde auch so einiges abgesondert – und vor allem wurde es sehr, sehr teuer.