H.C. Artmann zum 90. Geburtstag

Hinter der Maske jedes lieben Menschenfressers steckt ein garstiges Kind. Bevor ich H.C. Artmann kennenlernte, wußte ich schon, daß das Grauen in Österreich wohnt. Dieses Wissen verdankte ich einem Büchlein, das 1984 im Verlag Volk und Welt (DDR) erschienen war. Es hieß bezeichnenderweise „Der handkolorierte Menschenfresser“ und sollte womöglich vom Kannibalismus im eigenen Land ablenken. Dieser Schachzug war klug, aber die Partie war schon verloren. Es kursierten zu viele schwarzgedruckte Exemplare von Orwells „1984“. Eins davon war eingebunden ins Statut der Jungen Pioniere. Im Fortgang der Geschichte durfte der Wiener Landlord auch die ramponierte Heimat von Köhlerliesl und Holzmichl besuchen und im Gegenzug der sächsische Kumpel zu Mozarts falschem Grab reisen, wo er baff erstaunt war, daß die künstlichen Blumen davor aus Sebnitz stammten.
Ich bin H.C. Artmann tatsächlich einmal auf so einer Schnuppertour in den Osten Deutschlands begegnet. Am 26. Januar 1991 bei einer gemeinsamen Zugfahrt von Leipzig nach Berlin. Das Gesicht dieses Grimbarts vor dem Fahrkartenschalter des Leipziger Hauptbahnhofs kam mir bekannt vor, nur wußte ich nicht, wo, zum Teufel, ich dieses Gesicht schon gesehen hatte. Ein Leipziger Kulturredakteur, der Artmann auf seiner Lesereise begleitete, half mir über die fehlende Anrede hinweg und stellte uns einander vor. Herr Artmann war entzückt, daß er nun gleich zwei Studienobjekte für die sächsische Mundart hatte und dankte es mir, indem er meinen Zuschlag für die 1. Klasse übernahm. Ich war bis dahin – und später meistens auch – nur in überfüllten 2.-Klasse-Abteilen gereist und dachte, wenn man es als Dichter so weit gebracht hat, ist man aus dem Gröbsten raus. Irgendwann fiel der Name Lene Voigt und schon waren wir bei „Hamlet odr dr verbrächerische Onkel“ angelangt. Wir tauschten auch Bücher aus und viele andere Artigkeiten. Dann kam Bitterfeld und Herr Artmann schaute interessiert auf die Ruinen des experimentellen Sozialismus.
Der Anblick zwingt ihn, kryptische Sätze zu zitieren: „Mit dynamit werden tunnels in die berge gesprengt, dabei stößt man häufig auf wasseradern. Früher gab es eine menge zwerge, denen kaufte man den blaugrauen schiefer ab.“
Was mögen seine stets wachsamen Augen, die listig unter buschigen Brauen ins Weite spähten, noch gesehen haben? Vielleicht eine wackere Hausfrau in buntkarierter Dederonschürze beim Aufhängen der Wäsche. Die Rußflocken, die sogleich herbeieilen, setzen sich als schwarze Falter in den Morgenrock, der so anmutig die Wölbungen des Windes nachahmt.
Vom vielen Schauen wird einer, der das Geschaute gleich ins Reine reimt, müde. Er hält ein Nickerchen, bei dem seine Zähne die harten Traumwecken zermahlen, und ich kann bis Schönefeld meinen Wortschatz um die Papeterie, den Nießbrauch und den Aviatiker erweitern.
In Berlin trennten sich unsere Wege. Artmann und sein Begleiter fuhren Richtung Zoo, ich zum angeschlagenen Aufbau-Verlag in die Französische Straße. Ja, der Westen war mir noch immer sehr fern, ich hatte noch nie am Kurfürstendamm ein kenzo-sakko gekauft.
Solche Zugfahrten weiß man erst zu schätzen, wenn man eingepfercht zwischen Nichtrauchern und Bauchrednern auf die erste Durchsage nach einem dreistündigen Unterwegshalt auf freier Strecke lauert und plötzlich aus dem Lautsprecher eine schnarrende Stimme warnt: „In was für ein haus bist du da geschneit, unter welcher leute dach hat es dich da geweht? Bruder, das sind üble menschen, unholde, die einen schlachten, braten und essen!“
Seitdem ahne ich, daß alle Pannen der Bahn auf Artmannsche Schelmenstücke zurückzuführen sind, und das versöhnt mich mit der Tatsache, ihn jetzt in Liliput oder Brobdingnag zu wissen, von wo man bekanntlich keine Rückfahrkarte lösen kann.

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