Monolog im Schnee

I
Alles ist weiß geworden und bleibt es nun auch.

In der U-Bahn sehe ich Menschen und Werbung. Ich bin mir nicht sicher, ob ich Menschen sehe. Ich bin mir sicher, dass ich Werbung sehe, aber ich weiß nicht, wofür. Ich verstehe die Werbung nicht und will sie nicht verstehen. Ich schließe die Augen. Ich versuche, mir Musik vorzustellen.

Ich höre keinen Klang, nur die ineinandergreifenden Geräusche der U-Bahn. Sie verschmelzen zu einem Quietschen in unterschiedlichen Farben: Schienen, Züge, Füße, Türen.

Ich bin kalt. Überall in meinem Körper ist es kalt. Die Wärme, die da sein muss, um mich am Leben zu halten, spüre ich nicht. Dabei fühle ich. Ich habe Fühler, die das Leben ertasten, aber keine Gefühle. Wie fühlt sich das Leben an? Rein, ohne Gefühl?

Vielleicht sind die Gefühle in mir versunken wie die Titanic an den Grund des Eismeers. Die große, stolze Titanic!

Es gibt eine Melodie hinter dem Quietschen von Zügen und Schienen. Aus dieser Melodie pule ich Worte hervor wie aus dem Inneren eines Brötchens. Ich knete den weichen, schon gebackenen Teig und forme kleine Wesen. Die Wesen beginnen zu leben. Ich töte sie; zerbeiße, zerkaue und schlucke sie. Ich töte die Worte. Schreibe sie auf. Töte und erlöse. Immer wieder und wieder, es hört nie auf. Die Worte fliegen fort wie gefiederte Eisprinzessinen; sie fliegen in den Schneehimmel auf Nimmerwiedersehen. Ich weiß nicht, wo sie sind, was sie machen, ob sie irgendwo bleiben. Welchen Schrecken sie verbreiten. Wen oder was sie erlösen.

Draußen wird immer Schnee liegen. Als es noch sehr selten Schnee gab, empfand ich den Schnee als hell, heilig, rein, leise, ruhig, still. In mir gab es eine Art Schneegesang. Es war ein leiser und reiner Gesang, von einem dünnen, lispelnden Stimmchen gesungen. Der Gesang hatte eine kindliche Melodie. Sie versprach Ewigkeit. Sie lag wie ein Morgennebel in mir und wurde nie laut.

Der Schnee war etwas Besonderes. Er kam nicht jedes Jahr. Und wenn er kam, ging er wieder. Er schmolz, er verging, er zerfloss. Zur Schneeschmelze schloss ich die Augen, um die unschönen Reste nicht zu sehen. Den weißen Schnee behielt ich in meinem Innersten als reine Sehnsucht zurück. Wie war die Sehnsucht süß!

Doch nun ist der Schnee ewig. Er ist verschmutzt, verunreinigt, als wäre er vergänglich wie das Bellen eines Köters.

Ich habe kein Bedürfnis, jemanden anzusprechen, und ich möchte nicht angesprochen werden. In mir schneit es, die Flocken tanzen durcheinander über meiner inneren Schneelandschaft. Sanft landen sie, als legten sie sich schlafen. Sie sprechen, lispeln Erinnerungen, flüstern Liebesakte, Worte, Worte, durcheinander, ineinander, miteinander.

Ein Akt mit Worten im Schnee. Eine Schneezigarette danach. Das war heißkalt! Etwas ist tot. Etwas lebt.

Ich habe mich abgelöst wie eine Haut vom kalten Körper Wirklichkeit. Eine Schneehaut liegt außerhalb von mir, meine Schneehaut. Sie bleibt dort liegen wie ungewünschte Milchhaut auf Milch. Sie ist aus Milch, aber sie gehört nicht zur Milch. Sie bleibt übrig.

Draußen ist es kalt und wird es kalt bleiben. Die Schneelandschaft in mir ist geschmolzen; die wirbelnden Flocken über ihr sind mitten im Wirbeln erstarrt und können nicht landen. Sie stehen in der weißen Luft wie Fische in einem Aquarium. Weiße Fische in weißem Wasser. Ich singe meinen Monolog-Gesang im Schnee. Er klingt weit und für niemanden hörbar. Weit

II

Seit der Schnee da ist, ist alles anders geworden. Der Verkehr ist zum Erliegen gekommen. Alle Fahrzeuge sind stehen geblieben. Nur noch vereinzelte Autos sind auf den Straßen und bringen sich gegenseitig um. Die Menschen liegen im Schnee. Manche sind verschüttet, vergraben, man wird sie nie mehr finden, andere liegen wie Käfer rücklings auf dem Eis.

Der Schnee ist kalt, die Welt ist weiß.

Ich weiß nicht, warum die Welt soviel schlechter geworden ist. Liegt es am Schnee? Hat der Schnee die Menschen mit einer Art inneren Kälte infiziert? Oder liegt es am Schmutz, der den Schnee verunreinigt hat? Hat dieser Schmutz das Innerste der Menschenseele verdreckt?

Früher lag im Winter eine weiße, unberührte Decke des Friedens über allem. Sie schimmerte in der Nacht, und tagsüber spielte die Sonne ein Spiel mit tausend funkelnden, glitzernden, Diamanten. Was war nur damals anders? Was lag nur unter dieser Decke verborgen?

III

Seit der Schnee nicht mehr geht, haben die Leute aufgehört, mit mir zu reden. Alles ist in Stille gehüllt. Diese Stille ist, wie der Schnee, unrein. Sie ist ein dreckiges Schweigen, ein Ver-schweigen, ein Verbrechen.

evawal
geb. 1966 in Hamburg, Ausstellungen, Lesungen und Konzerte, Klang- und Rauminstallationen, Video, Film, Performances. Lyrik, Prosa und andere Abenteuer. www.evawal.blogspot.com

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