Ein gutes Buch ist so selten wie ein guter Banker, ein guter Lehrer, ein guter Arzt, ein guter Journalist. Eines der besseren Bücher der guten Bücher ist „Ruf mich bei deinem Namen“ des Amerikaners André Aciman, der in Alexandria geboren wurde. Der Roman beginnt: „´Später!´. Das Wort, die Stimme, die Attitüde. Ich hatte noch nie erlebt, dass sich jemand mit einem ´Später´ verabschiedete -…“. Auch ein Trivialroman könnte so beginnen und hätte dann einen ausgezeichneten Anfang. Acimans Roman ist alles andere als trivial, obwohl seine Story, oberflächlich betrachtet, nicht fern des Trivialen ist. Simpel gesagt: Was die Leser zu lesen bekommen ist eine Sommer-Sonne-Strand-Geschichte, die am häuslichen Pool, an italienischen Gestaden, in geräumiger Professorenvilla, im provinzialischen Städtchen unter südlichen Himmel stattfindet. In dieser Umgebung und Atmosphäre treffen zwei „Knaben“ aufeinander: der 17-jährige Professorenbengel Oliver und der aus den USA angereiste Student David. Trotz ihrer Jugendlichkeit sind die Beiden geprägte Persönlichkeiten, die ihrer natürlichen Unmittelbarkeit hinderlich ist. Diese Behinderung, auch im Begehren, weiß der Erzähler geschickt in feinsinnigen Szenen zu variieren. So ist für die dauernde Spannung des Romans gesorgt. Das Erwarten, das Unerfülltsein, das Wiedererwarten, das Wiederunerfülltsein garantieren das Auf und Ab, das die Neugier der Leser immer neu anstachelt, obwohl der Roman in den Handlungen eher handlungsarm ist. Die eigentliche Bewegung findet in den Gedanken der gleichermaßen musisch begabten und orientierten Hauptpersonen statt. Immer dominiert das Geistige, obwohl das körperliche Begehren, also die schwer zu bekennenden, dann doch mit ungeteilter Lust zu lebenden Gefühle, maßgeblich die Begegnung von David und Oliver bestimmen. Sie sind Empfindsame, überaus Empfindsame, die unentschieden sind in ihrer Entschiedenheit. Ihre Gefühle pendeln: Von Frau zu Mann, von Mann zu Frau. David und Oliver erleben sich in ihrem Unvermögen, angesichts aller möglichen Möglichkeiten. Sie erfahren miteinander, in ihrer Unvollkommenheit, Momente des Vollkommenseins. Sie sind Menschen voller Spaß an der gebildeten, bildenden Sprache, Menschen, die sich aussprechen wollen und immer wieder einander sprachlos machen.
Kurzum, sie sind nicht einfache schlichte Menschen. Sie sind zu schön, zu klug, zu selbstgewiß. Zumindest werden sie so vom Autor aus gutem Grunde geschildert. Er will Distanz zu den Figuren, will dass sich niemand verliebt in die Schönheit, die Klugheit, die Selbstgewißheit. Das wäre die Sache des Trivialromans. Das wäre die Sache eines schwülstigen Schwulenromans. Das wäre die Sache eines beliebigen Unterhaltungsromans.
„Ruf mich bei deinem Namen“ ist ein unterhaltender Roman eines starken, sprachkundigen Schriftstellers. Der Roman hat die Qualität, die einst eine Erzählung wie Stefan Zweigs „Verwirrung der Gefühle“ oder James Baldwins Roman „Giovannis Zimmer“ hatten. Das Sprachbewußtsein von André Aciman bestimmt die literarische Konstruktion seines Romans. Szenen und Dialoge sind derart konzentriert und komprimiert, dass sie ohne weiteres in ein anderes Medium zu übertragen sind. Der Leser des Buches sieht einen Film. In dem ist mehr zu sehen als nur eine Sommergeschichte. Die Leser nehmen teil an Lebens-, Menschengeschichten, die, in ihrer Besonderheit, so besonders dann doch nicht sind. Das ist das Gute, das André Aciman so gut geschildert hat, dass sein Roman mit Genuß gelesen werden kann. Mit Genuß? Kann man das heute noch sagen? Ja, warum denn nicht? Weil einem so viele Bücher gar keinen Genuß mehr bieten?!
André Aciman: Ruf mich bei deinem Namen. Aus dem Amerikanischen Renate Orth-Guttmann. Deutscher Taschenbuch Verlag: München 2010. dtv 13894. 286 Seiten