Ohne Zucker

Tage gibt es, da denke ich
an dich, ganz ohne Anlass, ich sehe dich
noch sitzen am Tisch, morgenmüde,
die Zeitung im Blick.

Du warst mein ganzes
Zuhause, nicht schwer, auch nicht
leicht unser Zweisein. Und ja, du trankst
den Kaffee ohne Zucker.

Wie du am Tisch saßest.
Seltsam, dass ich gerade jetzt an den
Zucker denke. Als gäbe es sonst
nichts zu erinnern.

Antigone
Weder gewesene Pionierleiterin, Mitglied des Politbüros oder gar Geliebte des Staatsratsvorsitzenden (wie hier vermutet), sondern schlichte DDR-Bürgerin, nunmehr für 18 Milliarden DM zusammen mit 17 Millionen DDR-Bürgern zwangsweise verkaufte Bürgerin des Staates BRD. Hanna Fleiss: geb. 1941, wohnhaft in Berlin, Veröffentlichungen: zwei Gedichtbände "Nachts singt die Amsel nicht" und "Zwischen Frühstück und Melancholie" sowie in zahlreichen Anthologien und im Internet.

24 Kommentare

  1. Das Singen der Vogel ist ein Naturzwang, wogegen der Mensch aufgrund seines freien Willens selbst entscheiden kann, ob er seinen Kaffee mit oder ohne Zucker trinken möchte – sofern er welchen hat. Kaffee trinken ist per se ein Privileg des aufgeklärten Westeuropäers, und nur fairer Kaffee ist hier eine Option, ihn nicht als Ausbeuter erscheinen zu lassen! Demgegenüber steht nur die Sterblichkeit, die Endlichkeit – auch aufgrund von Zivilisationskrankheiten wie bspw. Diabetis. Der Diabetiker ist gezwungen, seine Kaffee ohne Zucker zu trinken, wobei wir wieder beim Naturzwang wären.

  2. das gedicht ist „ohne zucker“ ge(über)schrieben – der titel programm. kühl, sachlich – frei von kitsch und tirili – fast medizinisch. ein kühler diskurs, präzise, chirurgisch.

  3. …obwohl manche Zweisamkeit durchaus mit chirurgischer Präzision zusammengefügt und (bei Ehevertrag) auch wieder geteilt wird.
    Aber diese Diskussion ist hier unwürdig. Schließlich handelt es sich bei dem Gedicht um Privatsphäre und sollte auch so behandelt werden.

  4. Nein, Soundroom, ich habe das Gedicht zur Diskussion gestellt, sollen die Leser doch schreiben, wie ihnen ums Herze ist. Für mich insoweit interessant, als jeder Kommentator seine schöne Seele ausbreitet. Liebe hat nichts mit Nachtigallensang, sondern mit Kontobewegungen zu tun, wenn man mal sehr realistisch ist. Ist nichts Neues. Das sitzt eine ältere Frau allein am Frühstückstisch, die Zeit ihrer langen Ehe fällt ihr immer wieder ein, die Höhen und Tiefen hatte, auch nichts Neues, und dann bleiben ihre Gedanken an einer Gewohnheit hängen: Ihr Mann trank den Kaffee immer ohne Zucker, das war vielleicht mal Gegenstand von Gesprächen zwischen ihnen. Was bleibt vom Zusammenleben, sind Gewohnheiten, Gesten, Sätze. Und so ist das Leben. Nachtigallen haben da keinen Platz, aber die Liebe spricht auch aus diesem Detail: immer ohne Zucker den Kaffee getrunken. Für mich eine menschliche, realistische Erinnerung an die Zeit, als ihr Mann morgens mit ihr noch am Tisch saß. Und da müssen auch keine großen Worte gemacht werden, das Einfache, das so schwer zu machen ist, das habe ich versucht aufzuschreiben.

  5. Boah, Sie sind ja ziemlich unromantisch (geworden…): „Liebe hat nur was mit Kontobewegung zu tun“ – so ein Schwachsinn, sind Sie im Leben nicht an den Richtigen geraten? Das tut mir leid.

  6. Na, Soundroom, da ist Ihnen Ihre Umwelt wohl nicht bekannt? Wenn Sie erst 16 sind, ist das verzeihlich, aber ab 25 wird es gefährlich. Um mich geht es hier nicht, kümmern Sie sich um den Text, meine Person ist hier nicht relevant.

  7. Also schreiben Sie hier nach dem Foucaultschen Modell: Die Einheit von Autor und Werk ist aufgelöst. Aber auch dann gilt mein (nun sachlicher) Kommentar: Wie unromantisch eine lange Ehe werden kann. Das hat der Text kalt gezeigt.
    Im übrigen: Um die Hochzeitstage meiner nicht unbedingt pekunär ausgerichteten Zweisamkeit zu zählen brauche ich mehr als vier Hände… ein hoffnungsloser Fall für die Sachlichkeit eben. Lebe wild, gefährlich und eben auch romantisch, möchte man da der Jugend zurufen.

  8. Wenn Sie wüssten, Soundroom, wie ich gegen meine romantische Ader anschreiben muss. Und nein, so einfach lässt sich das mit der Liebe nicht teilen, wie Sie glauben, sondern: ein Schuss Romantik und drei Schuss Konto. Die Welt ist pekuniär geworden, wie Sie schreiben, stimmt. Und das mit der Jugend können Sie sich abschminken, die geht höchstens bis 15, danach wird manch ein Jugendlicher schon Vater von Zwillingen. Finden Sie, dass der Text „unromantisch“ ist? Weshalb, was fehlt Ihnen denn an der „Romantik“? Weil der Text ohne Nachtigallen auskommt? Ich liefere gleich zwei nach: Düdelidedelü. Das ist Nr. 1. Jetzt kommt Nr. 2: Didedeidüdidilü. Zufrieden?

  9. Wenn ich nun ein Teenager von heute wäre, würde ich zu Ihren Äußerungen sagen: Hier spricht eine verbitterte Alte, die glaubt, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben und gern alle Jugendlichen unserer heutigen Zeit, von denen und von der sie nicht viel hält, über einen Kamm schert.

    Altersmilde jedoch belächle ich die Äußerung und gestatte mir den Hinweis, dass die Geburtenrate bei Teenagern in Dtld. noch nie so niedrig war seit Beginn der statistischen Aufzeichnung 1950. Den höchsten Anstieg gab es in den Jahren 1950-1970! Absoluter Spitzenreiter war die DDR in 1973 mit 21% , doppelt so hoch Anstieg wie in Westdtld. Grund war die Wohnungsknappheit, aber das wissen Sie vielleicht selber. Wer ein Kind hatte (und vielleicht noch verheiratet war), bekam schneller Wohnraum. Und nun die Tatsache: Seit 2000 sinkt die Teenagerschwangerschaftsrate kontinuierlich auf knapp 4% im Osten und 1% im Westen. Na, wie passt das in Ihr Bild? Tja, auch wenn RTL und Pro7 gern von jungen Müttern berichten: Sie müssen die schon mit der Lupe suchen.
    For further more information: bib-Demographie.de oder mich fragen, schon rein aus beruflichen Gründen kann ich Ihnen da gern weiterhelfen.

    Abschließend: Ich finde es klasse, dass wir mal hier im Blog auch über den Tellerrand schauen. Da kann keiner sagen, das die Lyrik-und Prosaschreiber so völlig aus der Welt sind. Oder? Nein, wir können auch Statistik!

  10. Soundroom, wenn ich Sie ernstnehmen soll, beweisen Sie, dass Sie kein Dummschwätzer vor dem Herrn sind, stellen Sie einen Text ein, dann sehen wir weiter. Bis dann.

  11. texte sind erzeugnisse denkender und fühlender wesen – und sie entstehen – aus der spontanen, unbewusstten empfindung heraus. alles, was dieser folgt, ist eine formalisierung, ein eingrenzen, ein geradebiegen – wortarchitektur. einmal folgt jemand dem spontanen hochgefühl des verliebtseins – dann wieder der erinnerung. wollen wir denn aufhören, uns zu erinnern? entgleitet uns mit der zeit nicht allzuoft das gefühl, das wir für den verlorenen partner hatten? nun steht es da und es steht gut.

  12. Die unzähligen Facetten der (verflossenen) Liebe. Bloß seltsam wenn jemand meint, dass sie literarisch nur nüchtern zu verbuchen sei. Man kann sich schon fragen, ob eine Herangehensweise, mit der die Autorin „gegen ihre romantische Ader“ anschreibt, dem Phänomen Liebe in seiner ganzen real existierenden (unermesslichen) Breite, gerecht zu werden sei. Von „Kontobewegungen“ mal ganz zu schweigen. Aber als Nachdenken über den Verlust, als Erinnerungsstück finde ich „Ohne Zucker“ sehr stimmig, auch wenn mir „du warst mein ganzes Zuhause“ etwas abgegriffen erscheint.

  13. Hallo Zaghafter Schlichtungsversuch, danke für Ihre Überlegungen. Die Liebe hat viele Facetten, aber hier geht es nicht um die Liebe, sondern um GEDICHTE über die Liebe. Und wir können uns hier auch nur über Gedichte mitteilen. Alles andere ist mehr oder weniger Pipifax und geht am Thema vorbei.

    Hallo Jens Rudolph, ich verstehe, dass es Ihnen nicht gefällt, wenn Sie nicht allseits Lob für Ihr Gedicht erhalten. Das ist eine normale Reaktion. Ich habe Ihnen das nicht geschrieben, dass es sich um Kitsch handelt, weil ich Ihnen schaden will, sondern um Sie zur eigenen Kritikfähigkeit zu ermutigen. Sie schreiben offensichtlich schon länger Gedichte, Sie haben das Metrum bis auf eine Zeile sehr ordentlich eingehalten. Rein schreiberisch ist nichts gegen Ihr Gedicht einzuwenden, bis auf die kitschige Behandlung des Themas. Ich kann also damit rechnen, dass Sie wissen, worum es geht. Sie müssen es hier auch nicht tun, aber ich bin der Ansicht, Sie sollten sich Ihr Gedicht unter dem Aspekt Kitsch noch mal genau ansehen. Und dazu wünsche ich Ihnen dieses Fünkchen Selbstkritik, das jeder Autor braucht, will er als Autor auch akzeptabel sein.

  14. @antigone: ich empfehle eine Änderung Ihres Avatars in ANMAßEND. Dazu wünsche ich Ihnen dieses Fünktchen Selbstkritik, das jeder Mensch braucht, will er als Mensch auch akzeptabel sein.

  15. Herzlichen Dank für die Empfehlung. Um mich bei Ihnen zu revanchieren, empfehle ich Ihnen den Nick Hohlkopf. Kennen Sie den: „Das Recht auf Dummheit garantiert die freie Entwicklung der Persönlichkeit.“?

  16. Na aber Hallo kenn ich den! Desterwegen hatten wir in der Tätärätätä wir doch so viele Persönlichkeiten gehabt! Dummheit: Der beste Weg, um einundvierzig bittere Jahre durchzustehen und dabei zu einer sozialistisch geformten Persönlichkeit heranzuwachsen.

  17. Entschuldigung, Logik, es handelt sich hier um eine Liebesbeziehung und nicht um eine Operation…

    Ich möchte hier noch mal zurückkommen auf die Differenz von Liebesbeziehung und Operation. Es wird vorausgesetzt, dass beide Begriffe einander diametral entgegengesetzt zu betrachten sind. Und dass auf einen Fall eine Überkreuzung beider „Sphären“ statt finden darf. Betrachten wir das Ganze doch einmal nüchtern. Eine Liebesbeziehung ist vor allem eines: die Qualitätsbezeichnung einer Beziehung zwischen zwei Objekten, hier setze ich einfach einmal voraus, dass es sich dabei um humnoide Wesen handelt. Es handelt sich also um einen feststehenden Begriff, der ein ganzes Universum umschreiben kann – Beziehung sind zum einen örtlich und zeitlich definiert und sie verändern ständig ihre Beschaffenheit, Entfernung, usw. „Liebe“ ist eine beigefügte Hyperqualität, die das ganze definitiv und tendenziell wohlwollend einrahmt. Soweit zum Ersten, wenn auch etwas grob gefasst. Bei einer Operation handelt es sich um ein substantiviertes Verb, um das Einfrieren einer Tätigkeit. Ist die Operation geglückt, freut sich der Mensch. Ist sie noch in vollem Gange, ist die Differenz zwischen Operateur (Subjekt) und zu Operierendem (Objekt) herzustellen, woraus sich ganz eindeutig eine Hierarchie ergibt, die bei der Liebesbeziehung per se nicht gegeben war.

  18. es kommt in der liebe nicht auf die großen entwürfe an, zu denen sie sich, frau kleist, immer wieder aufschwingen, um dann unsanft im gebüsch zu landen, sondern auf den fehlenden zucker im kaffee – was immer das implizieren mag. lassen sie’s offen – die schönheit der welt liegt im detail. und um das sehen zu können, muss man zuweilen auch die eigene fehlsichtigkeit akzeptieren, ohne die das gar nicht möglich wäre. wenn sie lieben, gehen sie an das geliebte objekt sicher auch nicht mit dem seziermesser ran, und weil sie eben eine heillose idealistin sind, lieben sie mit einer absolutheit, die schon beinahe wahnhaft ist.

  19. Die Einheit von Autor und Werk ist aufgelöst. Dies ist längst ein Standarddiskurs. „Als gäbe es sonst nichts zu erinnern.“ An dieser Stelle hole ich nun bewusst einen Kontext herein, der sich hier im Blog desöfteren ereignet hat: „Antigone“ äußerte ihn im Zusammenhang mit den Kommentatoren: „als gäbe es sonst zum Text nichts zu sagen. Meine Schlussfolgerung hieraus ist: Sagen und erinnern funktionieren ähnlich oder gar zusammen: Was man nicht erinnert, lässt sich nicht sagen. Beschäftigen wir uns also zunächst mit der Erinnerung: Sie funktioniert über konkrete, nicht über abstrakte Vorgänge: „Kaffee ohne Zucker.“ Weshalb hier abschließend die Erinnerung nicht als Ganzes im Gedicht aufgeht, sondern ein Rest „sonst nichts“ bleibt. „Sonst nichts?“ wäre auch noch zu vernetzen mit „seltsam“. Ersteres deutet ein Gefühl der enttäuschten Erwartung an. Zugleich aber ist die Erinnerung an etwas sehr Konkretes, nicht „Großes“ „seltsam“. Diese 2 Äußerungen in ihrer Vernetzheit am Ende des Gedichts öffnen ein neues Diskussionsfeld.

  20. Nicht zu vergesen hierbei: „Ganz ohne Anlass.“ Erinnern braucht also keinen Anlass. Es scheint einfach „da“ zu sein. Entgegen des Erinnerns als Ritual.

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