Stadt mit Herzkammer

Von der Mitte der neuen Brücke hat er die rechte Distanz. Mit einem Blick erfasst er die ganze Stadt. Und was er mit einem Blick erfasst, zeigen schon die alten Stiche: die Altstadt, den Fluss und über ihn gespannt die Alte Brücke. Sie sind, wie sie immer schon waren. Nur das Schloss scheint im Laufe der Jahre etwas tiefer herabgesunken, als wolle es die Stadt in den Fluss schieben. Vielleicht hatte die Stadt früher einmal oben auf dem Berg gelegen. Vielleicht ist sie aber auch aus dem Wasser gekrochen und drängt nun wieder zurück in ihr Element. Anscheinend ist sie sich immer gleichgeblieben. Nur in der Erinnerung ist alles ein wenig höher. Hinter der Alten Brücke hat der Berg seinen Fuß weit vorgesetzt. Natürlich lässt sich der Fluss nicht ungestraft in den Leib treten. Jedes Jahr setzt er die Stadt unter Wasser.
Der Fluss beherrscht die Szene, mehr noch als das tief hängende Schloss. Ein großes Staubecken scheint der Fluss. Lange Platanen- und Kastanienreihen säumen die Ufer. Die beiden Uferstraßen teilen sich die Hausnummern. Diesseits die geraden, jenseits die ungeraden Zahlen. Der Fluss dazwischen, als Wasserstraße ihre Fortsetzung mit anderen Mitteln.
Die wenig dramatischen Berge beeindrucken keine starke Menschenseele. Die Natur ist hier weder erhebend noch beängstigend. Nicht zu viel Natur, nicht zu viel Stadt, von beidem gerade genug. An diesem Morgen hat sich, von der Morgensonne magisch beleuchtet, zwischen den Bergen eine Nebelwand aufgetürmt.
Links ist ein schmaler Streifen Uferwiese. Hunde werden ausgeführt. Ein paar toben herum, beschnuppern und bespringen einander. Dann laufen sie zu Herrchen und Frauchen zurück. Die werfen etwas und die Hunde scheinen sich zu freuen, dass sie beschäftigt sind. Einer jagt die verschlafenen Schwäne und Enten, die ins Wasser flüchten. Eigentlich müsste ihr Bellen zu hören sein. Doch kein Tierlaut dringt zu ihm herauf auf die Brücke. Ein lebhaftes, aber völlig stummes Schauspiel. Als wäre er taub und würde ein Konzert aufgrund der Mimik und der Gestik der Sänger und Musiker genießen. Eine Kehrmaschine fährt Zickzack über das Gras und fegt die Reste einer lauen Sommernacht zusammen.
Der lange Wiesenstreifen den Fluss entlang ist nach den heißen Sommertagen vergilbt. Es hat lange nicht geregnet. Bis auf den warmen Niederschlag vor wenigen Tagen. Es war ein so wunderbarer Regen, dass selbst die Würmer neugierig wurden und aus dem Boden krochen, wie sonst nur die Touristen zum Feuerwerk kommen an warmen Sommerabenden.
Im Herbst laufen hier die Kinder und lassen ihre Drachen steigen. Unter Jungen artet das wie jedes Spiel zu einem Wettstreit aus. Welcher steigt am höchsten? Vom Wickelholz läuft die Schnur Meter für Meter aus der Hand in die Höhe. Kaum mehr ist der bunte Papiervogel im blauen Himmel zu erkennen. Noch immer rollt die Schnur, hält den steigenden Drachen. Der stolze Junge muss befürchten, dass die Schnur nicht reicht. Da zieht mit einem Mal der Drachen nicht mehr. Er steht am Himmel und schaukelt gemütlich hin und her. Das leichte Gewicht des dünnen Fadens, mit dem der Junge seinen Flieger führt, ist zu schwer geworden.
Aus der Nebelwand lösen sich einzelne Schwaden und schweben über dem Fluss. Sie folgen zögerlich dem Lufthauch, den die Strömung des Wassers auslöst. Sie dekorieren Berg und Gebäude. Indem sie sie verbergen, werden sie erst interessant im magischen Licht der aufgehenden Sonne, das den von Osten kommenden, dampfenden Fluss von innen heraus beleuchtet.
Zwischen den beiden Brücken, zur neuen Brücke hin, weitet sich das enge Tal ein wenig. Die Stadt quillt zwischen den beiden Bergen heraus. Auf diese, sich nach hinten verjüngende Fläche passt nicht allzu viel. Grund und Boden sind kostbar. Die Berge ein klein wenig auseinander geschoben, würde vielleicht helfen. Alles, was zu Füßen der Berge keinen Platz mehr gefunden hat, kann sich nur vor der Stadt in der Ebene breit machen. Alle überschüssige Kraft, alles, was sie nicht in sich behalten kann, schüttet sie aus übers flache Land. Als wolle sie sich, wie ein Fluss ins Meer, in die Welt ergießen. Eine Mauer würde helfen. Dass sie alles in sich behielte und ihre Kräfte staute. Sie würde in sich selbst ertrinken.
Dieser Trichter einer Mündung ist genau der rechte Ort für diese alte, merkwürdige Stadt. Man nennt ihren Namen und meint doch nur diesen Teil. Das widerfährt selbst ihrer großen Schwester. Man sagt New York und meint Manhattan. Gleichbleibend jung ist sie in die Jahre gekommen. Man weiß nicht so recht, wie. Ist sie nun jung oder alt? Die Zeit kann ihr nichts anhaben. Sie durchläuft immer wieder aufs Neue die Phase der jungen Menschen, die sie herlockt, Jahr für Jahr, Jahrhunderte lang. Dass sie von ihr lernen. In Wahrheit taugt diese Stadt am Fluss überhaupt nicht zum Lernen. Still sitzen, während draußen das Wasser in einem fort weiter strömt! Den Jungen raubt sie die Jugend, während sie bei ihr lernen und altern. So hält es sich jung. Das alte Mädchen.
Durch den leichten Nebel kommt ein frühes Schiff. Als es aus seinem Blickfeld verschwindet und unter seinen Füßen in die Brücke einfährt, erwartet er unwillkürlich einen heftigen Stoß.

Überall in der Welt hat dieses romantische Städtchen ihre Vertreter. Es sind die Menschen ohne Herz. Auch wenn es unglaublich erscheint. Geht doch alle Welt davon aus, dass den Besuchern dieses idyllischen Ortes eher noch ein zweites, drittes, viertes und mehr Herzen geschenkt würden. Zumindest, dass ihre Brust schwillt, und sie sich auf tut, und die großen Empfindungen der Liebe einziehen können in ein erweitertes Herz.
Dem ist nicht so! Es ist nicht wie bei Liebenden und Verliebten, die zueinander sprechen: ich schenke dir mein Herz, oder: dein ist mein ganzes Herz.
Nein, es findet kein partnerschaftlicher Austausch der Organe statt. Dass nachher jeder wieder ein Herz besäße. Sonst wäre dieser Ort nur die Krankenstation ungezählter Transplantationen. Es gibt aber keine Revanche Auge um Auge, Herz gegen Herz. Nein, sie geben ihr eigenes ganz und gar selbstlos aus der Brust. Und erhalten keinen Ersatz dafür. Der Gipfel aber ist, dass diese Herzlosen sich für die eigentlich Herzlichen und wahren Herzbegabten halten.

Es existiert ein alter Text, der die Geschichte dieser leidigen Herzverliererei erzählt. Es fängt ganz harmlos an. An einem Sommerabend küsst ein Achtzehnjähriger rote Lippen und goldenes Haar. Nach diesen doppelten Orts- und Zeitangaben werden das Geschehen und der Ort des Geschehens in einem Atemzug genannt: ich hab mein Herz in … verloren. Was weiter noch geschieht mit dem verlorenen Herz, darüber wird nichts gesagt als: mein Herz das liegt am … Strand. Doch dieser Strand ist reine Übertreibung. Er ist nichts weiter als dieser schmale Wiesenstreifen am Flussufer. Das ist das ganze Geschehen. Während lauer Sommernächte geht ab und zu ein Herz verloren. Unbemerkt, wie eine Sternschnuppe leise am Nachthimmel fällt. Die Herzen liegen dann wohl einfach so herum und werden keiner weiteren Verwendung zugeführt.

Dieser Tort, den die Stadt den Herzlosen, oder diese sich selbst antun, treibt die Entherzten nicht zur Verzweiflung, vielmehr bedeutet ihnen die Hergabe ihrer Herzen ein großes und höchstes Glück. Schon allein die Möglichkeit, hier sein Herz verlieren zu können, lässt dasselbe höher schlagen. Dabei nehmen sie sich einiges heraus und schrauben Gedenk-, Dank- und Votiv-Tafeln an die Mauern, sie ritzen Zeichen in Bänke und Bäume, um ihre Herzensangelegenheit öffentlich und dauerhaft zu machen. Sie wollen es jedem singen: „Ich hab mein Herz verloren!“, ob er es hören will oder nicht. Ein wenig lästig können sie damit werden, doch wem das Herz voll ist, dem geht der Mund über. Obwohl sie im Grunde harmlos sind, fragt sich der gesunde Menschenverstand, ob sie noch ganz bei Trost sind.
Doch was sollten diese Unverständigen gescholten und dazu angehalten werden, wieder zur Vernunft zu kommen, ausgerechnet von denen, die noch im Vollbesitz ihrer Herzen sind. Denn die Herzhaften sind die wahrhaft Unglücklichen, weil sie noch ihr Herz und noch nicht geliebt haben.
Wie auch immer! Mit Herz oder ohne. Grundsätzlich kann ja nichts wirklich verloren gehen. So sagt es der Satz von der Erhaltung der Energie. Und diese Herzlosen jammern ja nicht nur nicht, sie jubilieren sogar.

So bliebe zuletzt noch zu fragen, ob sie, die Jubilierer, ihre Herzen nur in der oder gar an die Stadt selbst verloren haben. Vielleicht wird dies alles seitens der Stadt sogar plan- und generalstabsmäßig, gewissermaßen attentatsmäßig und in großem Stil geplant und durchgeführt. In diesem Falle wäre zu fragen, ob die Stadt außer dem Ort der Handlung, sogar selbsttätige Ursache, nicht nur der Grund und Boden, sondern darüber hinaus die Bedingung der Möglichkeit eines solchen organraubenden Vorgangs überhaupt sei?
Ägypten hat seine Pyramiden, Dresden sein Grünes Gewölbe. Diese Stadt muss eine Herzkammer haben, einen tesoro cordiale. Sie liest alle in einer milden Sommernacht verloren gegangenen Herzen auf und trägt sie in ihre Herzenkammer.
Zu guter Letzt sind die Herzlosen in alle Welt verstreut. Man findet die spietati in Nord und Süd, Ost wie West, nah und fern. Andern Orts, wo sie ihr wirkliches Leben leben, führen sie sich dann seltsam normal auf. Denn es ist anstrengend und lästig, jeden Tag verliebt zu sein. Von dieser Last befreit sie dieses Städtchen, indem sie sich ihrer Herzen annimmt. Sie lässt die Jungen die Liebe lernen. Und wenn sie aus geliebt, schickt sie sie weiter auf ihrem Lebensweg. Denn das Stadt-Städtchen will keinen für immer bei sich haben. Aber es verlangt seinen Blutzoll. So schlägt ihr Puls seit Jahrhunderten. Die Stadt ist ein wahres Ungeheuer. Das gehört ersäuft, bevor die jungen Menschen in ihrem Jubel ertrinken, wie junge Frösche ersaufen, wenn sie nicht wissen, dass sie keine Kaulquappen mehr sind.

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