Zwei unsichtbare Wesen [2, 5]

Ich zitterte. Dieser Bahnhof war ein Ort des Jüngsten Gerichts. In meiner Phantasie malte ich mir aus, wie auf der einen Seite, weitab vom Eingang des riesigen Gebäudes, eine Gruppe Reisender, gerade dem Zug entstiegen, versucht, zur Straßenbahn zu gelangen, die doch sonst immer den Schwall der von den Schnellzügen ausgespuckten Gestalten an ein Ziel im weiträumig ausgebreiteten Rund der Häuser dieser Stadt verteilte. Heute aber gab es kein Durchkommen. Die Leute drängten sich dicht an dicht in der großen Halle, während draußen Lautsprecherdurchsagen tönten und mit dem blechernen Klang ihrer Schallverstärkungsmaschinerie jedem Anwesenden klar machten, dass die gewohnte Ordnung der Dinge an diesem Nachmittag Anfang Oktober außer Kraft gesetzt war. Wer aber setzte mit der Kraft seines Willens, und wodurch hatte er überhaupt diese Kraft? Wer wurde hier versetzt, wer geriet ungewollt in Bewegung, in welche Richtung wurde er gedrückt vom Strudel der Ereignisse? War denn dieser Ort tatsächlich zu einem riesigen Schachbrett geworden, an welchem zwei unsichtbare Wesen unerbittlich um die Vorherrschaft in Raum und Zeit kämpften, wissend, dass jeder ihrer Züge unwiderruflich und das Ende nur darin bestehen konnte, entweder die Spielfläche ganz leer zu räumen – so leer wie eine Wüste – oder aber eine der beiden menschlichen Hauptfiguren, zu viel der Ehre für einen Namen wie den des Königs, in seiner Bewegungsfreiheit einzuschränken bis auf den eigenen Atem, der die Fülle neuer Gedanken gebiert?

Zhenja
Künstlername des aus Südrußland stammenden Dichters Jewgeni Sacharow; hob unter nickname Zhenja 2007 gemeinsam mit Gesche Blume und Viktor Kalinke den literarischen Blog www.inskriptionen.de aus der Taufe. Das seit 2009 verwendete Pseudonym stand dabei zunächst Pate für eine Reihe von Versuchen, sich zugleich die Bild- und Klangsprache des 1922 verstorbenen futuristischen Dichters Viktor Vladimirovic Chlebnikov und die Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschen als literarischer Nichtmuttersprache zu eigen zu machen. Zunehmende Vermischung eigener Sprachschöpfungsprozesse mit dem Ideenfundus des russischen Avantgardisten bis zur „non-rem-fusion“. Sacharow lebt und arbeitet seit 2008 als Garderobier und freischaffender Autor in Frankfurt am Main. Projekt der beiden in Deutschland ansässigen russischen Dichter Jewgeni Sacharow und Sascha Perow, „Brüder im Namen“. Jewgeni beschäftigt sich seit 1990 mit Drama in - wie er es nennt - Außenprojekten, ich dagegen (Perow) versuche mich gelegentlich an Übersetzungen aus dem Russischen; mein Ziel: Erschaffung eines neuen Dialekts der Weltpoesie, der „Sternensprache“. Wichtig war für unser Inskriptionen-Doppelleben die Begegnung mit der deutschen Dichterin Hanna Fleiss im Winter 2012 in Berlin.

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