Das Fenster

Wenn ich einen Satz, ein Kapitel oder ein Buch beendet habe, dann blicke ich oft aus dem Fenster der Bibliothek. Sie liegt auf einem Berg; ich sehe Wald und Felsen, ein Tal, und am Fuße der Berge eine Stadt.

Manchmal stelle ich mir vor, ich wäre auf der anderen Seite des Fensters, würde in die Bibliothek blicken und mir beim Schreiben, beim Lesen zusehen. Ich sehe mich, wie ich Zeitungen oder Bücher suche, sie aufschlage und sie wieder zurückstelle. Ich sehe, wie sie aus den Regalen genommen, nach draußen gebracht und mit anderen Büchern ersetzt werden. Vielleicht nach einem Jahrhundert ist die Bibliothek eine andere.

Und dann, eines Tages, sind die Bücher, ist die Bibliothek verschwunden. Zu beiden Seiten des Fensters: Berge, Himmel, Wind.

Patrick Beck
geb. 1975 in Zwickau, lebt nach Aufenthalten in Leipzig, Speyer und London in Dresden. Erzählungen, Essay und Dramatik u.a. in den Zeitschriften „randlos“, „Der Maulkorb“, „Die Brücke“ und „Ostragehege“ sowie am Staatsschauspiel Dresden. Swantegard (Hörspiel), ERATA 2008.

3 Kommentare

  1. De Profundis.

    Das Wintersemester lief sang- und klanglos aus. Es war die Zeit, in der ich morgens nicht wusste, ob ich im Wintermantel oder Blazer das Haus verlassen sollte, mich hinter dem Glas und Beton der Bibliothek verschanzte, um dann gegen Abend riesige Bücherberge, Fleisch gewordene elektronische Chiffren, nach Hause zu transportieren. Sonntag Vormittag im März läutete das Telefon. Es war Melisand. „Vyvyan“, begann sie zögernd, „Vyvyan, komm heute nachmittag zu mir, ich muss etwas mit dir bereden.
    Melisand hockte im Schneidersitz auf dem Sofa, das zugleich ihr Bett war. Leere Weinflaschen bildeten eine Serie auf den Fensterbänken und brachten das Tageslicht grün herein, so dass die Wand hinter dem Sofa schillerte. Sie las in Oscar Wildes „De Profundis“. Aus dem Ärmel ihres schwarzen Jäckchens zog sie ein Präservativ. Ich bekam Angst. Sie schüttelte den Kopf. „Er kommt, wie es ihm passt, er geht wie es ihm passt…“ Ich sah aus dem Fenster. Hier, wo riesige Löcher gähnten, sollten einst dieselben Glaspaläste stehen, von denen ich soeben einen verlassen hatte.

  2. Es ist nicht genug, das Fenster zu öffnen, um Felder und Fluß zu sehen. Es ist nicht genug, nicht blind zu sein, um Bäume und Blumen zu sehen. Man darf auch keiner Philosophie folgen. Mit Philosophie gibt es keine Bäume: nur Ideen. Es gibt nur jeden einzelnen, wie einen Keller. Es gibt nur ein geschlossenes Fenster und draußen die ganze Welt. Man träumt nur von dem, was man sähe, wenn sich das Fenster öffnete, und das entspricht niemals dem, was man sieht, wenn man das Fenster öffnet.

  3. Und wenn Du zurück schaust und Dich siehst. Wen siehst Du dann? Dich? Dein Bild von Dir? Den Anderen, der Dich ansieht/ durch Dich hindurch sieht, während er aus dem Fenster sieht und sich vorstellt sich zuzusehen?

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