Träumen [11]

Nun waren wir also im Wald. Nebenan jenes Zimmer, in welchem du mir dein Leben erzählt hattest, das mich schweigend angeblickt und stumm gefragt hatte, ob … – weiter hinten der Bahnhof, auf welchem wir uns begegnet waren wie zwei Schiffe auf hoher See. Unsere Mütter nun ganz in weiß gehüllt – eine Stille so laut, dass man vom mühsamen Knirschen der eigenen Beine getrost absehen konnte. Quietschendes Lachen, Tritte wie von Hufeisen in klingender Luft. Deine kalten Fingerspitzen zurückgezogen ins Innere der Faust, meine Füße ein eisiger Schrank in Bewegung – es könnte nur eine Frage der Zeit sein, bis ich sie wieder spüren würde – als das, was sie sind: Teil dieses Körpers. Die Schuhe waren zwar noch gefroren, aber wir beide waren endlich – unterwegs.

Temperatur steigend, Messfühler eisfrei.

Wir kamen auf den Vektorraum zu sprechen, diesen Anfang unseres Romans. Dein Vater, sagtest du, hätte dir einmal erklärt, wie die Erde entstanden ist. Da warst du fünf, sagtest du. Und hattest ihn danach gefragt. Ich erzählte, meine Mutter hätte immer einen Mann heiraten wollen, schon als Kind hätte sie davon geträumt. Und jetzt hatte sie einen Sohn. Er hätte aber gesagt, dass es niemand sicher wissen kann, sagtest du, und die denkenden Menschen erzählten sich folgende zwei Geschichten. In der einen sei von der Sonne ein Stück abgefallen. Weil sich die Sonne aber drehte, so wie die Erde auch, wäre dieses Stück fortgeschleudert worden – eine kleine Sonne, die sich dann allmählich abkühlte. Die andere Geschichte klinge unwahrscheinlicher. Danach sei die Erde aus einem Nebel entstanden, einer riesigen Wolke Staubes, der sich aber nicht so abgesetzt hätte wie die Staubschicht im Bücherregal, sondern sich in sich zusammengezogen habe – so dicht, dass daraus eine Kugel wurde – die Erde. Seitdem bist du, sagtest du, in sie verliebt. Diesmal stimmte ich dir zu. Dein Vater, schobst du einige Zeit später nach, hätte viele Jahre lang beim Kulturbund gearbeitet. Als er rausgeschmissen wurde, warst du acht Jahre alt.

Zhenja
Künstlername des aus Südrußland stammenden Dichters Jewgeni Sacharow; hob unter nickname Zhenja 2007 gemeinsam mit Gesche Blume und Viktor Kalinke den literarischen Blog www.inskriptionen.de aus der Taufe. Das seit 2009 verwendete Pseudonym stand dabei zunächst Pate für eine Reihe von Versuchen, sich zugleich die Bild- und Klangsprache des 1922 verstorbenen futuristischen Dichters Viktor Vladimirovic Chlebnikov und die Ausdrucksmöglichkeiten des Deutschen als literarischer Nichtmuttersprache zu eigen zu machen. Zunehmende Vermischung eigener Sprachschöpfungsprozesse mit dem Ideenfundus des russischen Avantgardisten bis zur „non-rem-fusion“. Sacharow lebt und arbeitet seit 2008 als Garderobier und freischaffender Autor in Frankfurt am Main. Projekt der beiden in Deutschland ansässigen russischen Dichter Jewgeni Sacharow und Sascha Perow, „Brüder im Namen“. Jewgeni beschäftigt sich seit 1990 mit Drama in - wie er es nennt - Außenprojekten, ich dagegen (Perow) versuche mich gelegentlich an Übersetzungen aus dem Russischen; mein Ziel: Erschaffung eines neuen Dialekts der Weltpoesie, der „Sternensprache“. Wichtig war für unser Inskriptionen-Doppelleben die Begegnung mit der deutschen Dichterin Hanna Fleiss im Winter 2012 in Berlin.

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