Wislawa in der Manteltasche

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Die nützliche Reise
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Das Ende der Selbstgespräche

Dem eigenen Vorgarten mal wieder entkommen. Das ist Glück. Von Zeit zu Zeit. Allem zu entkommen was allzu vertraut ist. Es gibt kein bessres Elexier. Sagte ich mir. Brich auf, brich ab, brich nicht den Stab. Über das Fremde. Das Rohe, das Graue, das Harte, das Weiche. Wird so viel geredet. Sagte ich mir. Such das Gespräch mit dem Stein. Und finde Hundert Freuden. Mitten im Winter. Im widrigen Winter. Und setzte den Fuß vor die Tür.
Je ost desto best. Hatte ich gesagt. Und promt bekommen, was ich verdiente. Den eisigen Ostwind. Ein tobendes Meer. Der Strand menschenleer. Eine erstarrte Wüste. Jeder einzelne Stein thronte festgefroren auf seinem eigenen Sandhügel, nach hinten (oder war es vorn?) mit einem kleinen Schweif versehn. Jedem sein Schiffchen. Dachte ich. Eine ganze Armada. Bereit. Wozu. Abweisend und stumm. Warum. Fragte ich mich. Ich klopfe an die Tür des Steins…Geh weg, sagt der Stein..ich hab keine Tür….
Na egal, sagte ich mir, rede ich eben mit den Wanderdünen. Aber die warfen mich ab. Wie eine lästige Ameise. Rückwärts rollend oder auf dem Bauch hinunterrutschend, mit lang ausgestreckten Armen zum Gipfel, endete jeder Versuch, sie zu erklimmen. Glatt, gefroren, unnahbar wie Pyramiden. So standen sie da und schwiegen.
Und das Wasser ? Das Wasser blähte sich auf und machte einen Höllenlärm. Doch sobald die Gischt das Ufer erreicht hatte, erstarrte sie zu Perlen. Ein stilles zartes Eisgewebe. Unter den tiefgefrorenen Sandschollen hingen Myriaden von Eiszapfen.
Wie wunderbar, sagte ich mir, und erweiterte den Sehschlitz zwischen Schal und Schapka um einige Millimeter.
Nach 2 Stunden aber hingen mir die Füße wie Eishufe am Bein. Ich erreichte mit Mühe die Krüppelkiefern und lahmte auf Elch- und Schweinepfad zurück ins Dorf.
Der Ort schien ausgestorben. Die Straßen leer, die Fischerbuden zugenagelt. Verriegelte Fensterläden, verschlossene Türen. Und überall das kleine Schild mit seiner großen Drohung: video monitoring. Mir wurde unbehaglich. Und hungrig war ich auch. Keine Sprotte weit und breit. Dafür schwarzer Rauch. Aus grauen Häusern.
Kein Rauch ohne Feuer. Sagte ich mir. Kein Feuer ohne Mensch. Meistens jedenfalls.

Bei Bigos und Wodka kam ich zu mir. Die erste Verklärung hatte sich schnell gelegt, sozusagen in Rauch aufgelöst. Stinkender Torfrauch. Wo war ich hingeraten. Dazu diese Sprache. Furchtbar. Nicht zu verstehen. Geschweige denn zu sprechen. Chrzaszcz brzmi w trzcinie. Ein Käfer zirpt im Schilf. Ich – verfiel in Schweigen. Wochenlang. Sagte ich mir nichts. Fragte ich mich nichts. Die Worte um mich herum blieben unverständlich. Und ich blieb stumm.
Selten so viel verstanden…Lob der Schwester…Meine Schwester schreibt keine Gedichte…

fryxell
Ilona Schlott: geb.1953, Studium Germanistik/Slawistik, 3 Jahre Lehrerin, 2 Kinder, Studium Gesang an der Hochschule für Musik Leipzig, seit 1984 freiberuflich als Sängerin und Autorin, lebt in Leipzig, Veröffentlichungen u.a.: Sol sajn (CD, Büchergilde 2009), Steißvogel (Leipziger Literaturverlag 2010).

7 Kommentare

  1. Geh weg, sagt der Stein… ich hab keine Tür….

    Kenn ich. Habe gerade einen solchen Stein aus meinem Lebensweg räumen müssen. In dieser schweren Stunde dürfen wir von uns erzählen.

  2. Ein ausgezeichnetes Stimmungsbild: „widrig, erstarrt, abweisend, glatt, gefroren, tiefgefroren, zugenagelt und verriegelt“ – Ich zittere vor Kälte!
    Und denke mit Entsetzen daran, dass ich im Winter ’78 mit der Familie auf Usedom zwei Monate eingeschneit war und mir im Winter ’87 an der polnischen Küste Ohren und Zehen angefroren habe.

  3. ja, die selige szymborska müsste echt den nobelpreis kriegen … wenn sie in nicht schon hätte!! eigentlich muss man von ihren großartigen kleinen gedichten auch immer alles zitieren. jede zeile hundert prozent zitierwürdig! – denke ich immer vor beglückung erstarrt, wenn ich wieder ihre texte lese. die schrieb nicht, die dachte einfach: und lauter kluge sachen. leider – und völlig zu unrecht! – ist sie vor einem jahr gestorben.

  4. du, und den andreas, den hatt ich noch von meiner oma, obwohl die schon seit über zwanzig jahren im jenseits ist. eben das, was man verdient. etiketten dürften auch noch drauf sein.

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