Traum eines lächerlichen Menschen im Centraltheater

Die „Festspielarena Leipzig“: das ist das letzte ekstatische Aufbäumen der Hartmann-Kompagnie, die den Leipzigern zeigt, was sie mit ihr verlieren. Schon der Bühnenbau wirkt fulminant: ein Amphitheater, das auf Bühne und erstem Rang des Stadttheaters temporär aufmontiert ist, vollkommen im universellen Weiß.

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Hier bewegt sich der Schauspieler im Mittelpunkt, die Orchestra gehört ihm, als Sprechraum und Spielraum. Stets ist er von von allen Seiten zu sehen, von vorn, hinten, links und rechts. Auf den Hinterkopf des Sprechers während eines melodramatischen Monologs zu blicken, relativiert jedes Pathos. Jederzeit kann der Spieler das Publikum anrufen, nicht nur in der ersten Reihe, die die Spielfläche begrenzt, auch die Zuschauer der oberen Reihen sind mit von der Partie.

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Das Stück beginnt und endet in vollkommener Dunkelheit. Aus ihr hervor quellen – wie akustische Raketentriebwerke – sechs Posaunen schicken von der oberen Diazomata anschwellende Töne hinab. Manche Besucher halten sich die Ohren zu.

Als es wieder hell wird, steht ein einsam junger Mann auf der Bühne, in tadellosem Anzug, im Seidenhemd, eine Augenweide. Lächelnd beginnt er den „Traum eines lächerlichen Menschen“ aufzusagen. Ein Spießbürger, so schien es, eine von Komplexen geplagte Seele, die sich hier frei redet und dabei den Frauen im Rund tief in die Augen blickt. Das ist der harmlose Auftakt.

Bald schon trifft der lächerliche Mensch den folgerichtigen Entschluß, sich zu töten – was anderes sollte er tun? Der lächerliche Mensch spricht diesen Satz „Ich habe beschlossen, mich zu töten“ immer wieder, laut, leise, brüllend, tief, hinter vorgehaltener Hand, mit verstellter Frauenstimme, piepsig hoch – etwa dreißig oder vierzig Mal. Er gerät darüber in Verzweiflung, steigert sich derart in die fixe Idee, daß die Selbsttötung am Ende ausgeschlossen ist: auch sie erscheint lächerlich.

Inzwischen hat der Mensch das Publikum infiziert, ist die Sitzreihen hinaufgeklettert, hat sich an die Schulter des einen oder anderen Zuschauers gelehnt. Hinter mir hat er gesessen, spuckend und prustend gesprochen, seinen Kopf dicht neben meinen gehalten und den Blick in meine Augen gesucht, um mir aufdringlich zu sein und unvergeßlich. Schließlich tobt er wieder in der Mitte, rollt sich über die Sitze hinweg nach vorn auf die Orchestra. Welche machtvolle Stimme in diesem dünnen Männlein steckt.

Die Posaunen kündigen den Einzug ins Paradies auf einem fremden, noch unschuldigen Planeten an. Hier leben alle Wesen mit gleichem Recht, Bäume werden als Heiligtümer angebetet. Liebe und Harmonie senken sich dämpfend herab. Das Leben erscheint als Kinderspiel.

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Der lächerliche Mensch steht als Gast verzückt auf diesem Planeten, seine irdischen Gefühle hat er jedoch im Herzen bewahrt und mitgebracht: Sympathie und Hingezogensein, Begehren, aus dem Begehren erwächst Wollust, aus Wollust Eifersucht, aus Eifersucht Gewalt, aus Gewaltg Blutrache, aus Blutrache Ehrgefühl und Scham, aus Ehrgefühl und Scham Religion, aus Religion erwachsen Kriege. Am Ende ist der einst friedliche fremde Planet wüst und gefährdet wie die Erde.

Zum Glück erweist sich alles nur als Traum. Der lächerliche Mensch erwacht im Lehnstuhl. Er entpuppt sich als der Spießer, der er schon am Anfang war. Die Posaunenspieler verlassen die obere Diazomata, steigen majestätisch zur Orchestra herab, umringen den lächerlichen Menschen, der angesichts der Schönheit und Kraft der Töne zusammenbricht, sich auf dem Boden windet, sich aufbäumt. Ende.

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Es bleibt ein Bild, die Choreographie eines Zusammenbruchs, ein Gedanke, die Unmöglichkeit dauerhafter Harmonie, ein Gefühl, der Absturz. Nachwort: nicht nötig.

Alfred Knurr
geb. am 24. 12. 1967 in Görlitz als Alfred Knerr, ist ein deutschsprachiger Kritiker, Possenreißer und Bän-kelsänger, die Eltern waren dem Wein zugeneigt, was ihn nicht hinderte in Halle (Saale) zum deutschen Biedermeier zu promovieren, zuletzt: Das Drama von Gier und Geiz, Frankfort am Mein, 2014

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