Ysatis

Ich bin heute zu Gast in einer Welt, die ich vor Jahren verlassen habe. Der Ort ist die Bibliothek. Gerüche, Erinnerungen sind in den Regalen, Katalogen und im Fußbodenbelag versteckt – doch nur selten schwingt etwas mit, das sie in Szene setzt. Ich habe die Bibliothek besucht, um schreiben zu können. Ich könnte mich hier, so hoffte ich, aus dem Zusammenhang lösen, der den Kopf in einer Schraubzwinge gefangen hält – als sei es eine Gemeinheit, eine Frechheit, Gedanken formen und freilassen zu wollen – die bloße Darstellung eine Bloßstellung. Spielen ist albern. Nur gestattet der Halbwüchsigen – in einem herbstlichen Garten, mit dem Befehl, Äpfel aufzusammeln, die schrumpligen, messinggelben und die scharlachroten glatteren in Körbe, die fauligen mit den Schimmelpunkten auf den Kompost. Doch was tut sie dort? Sie schreit es in den Wind, in das aufsteigende Laub „… brauch ich nur einen Männerreigen .. fünf bis zehn Meter lang … und Wolken rudern abwärts zum Experiment…“ Nun stehe ich in der Bibliothek, stehe, und setze ohne Scham das Rufzeichen hinter den Satz. Sie trägt femme, ein Parfum aus den vierziger Jahren, das nach einer Weile leicht ranzig riecht. Ich gehe in eine der angrenzenden Hallen, gelange fast unbeabsichtigt in den Bereich der englischsprachigen Literatur. Etwas empfängt mich neben den Büchern und Schriften, auch hier ist es, wie im Text, ein Duft. Ich kann ihn nicht dechiffrieren. Eine dunkelhaarige Frau, jung, mit straffem Gesicht und Pagenschnitt fällt mir ein, damals, als wir uns noch einmal einschrieben. Sie nahm Ysatis, einen Duft meiner Mutter. Es ist der Duft, der sich jetzt mit dem alternden Papier und dem Holz der Möbel mischt.

crysantheme
Wer eine Crysantheme verblühen lässt oder ihr den Kopf vor ihrer Zeit abschneidet, der erntet zur Strafe nur noch grünes Friedhofskraut.

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