Archipel der Anarchie VI

Die Maschine
Oder,
Über die Gefahren der Tyrannei – Wenn Vampire einen Staatsstreich verübten


Aufzeichnungen aus den Tagebüchern des Wanderers
Die Massen strömen in die große Kathedrale, füllen aus, das mächtige Bauwerk, ein Bollwerk gegen unsichtbare Feinde, vor langer Zeit unterworfen. Jeder Atemzug hallte von den toten Steinen wider, schwang beschwert von Seufzen und Ächzen, türmte sich auf, schlug Bögen, übertrumpfte sich gegenseitig
in einer Kakophonie menschlichen Leidens bis in die höchsten Türme, die die
ganze Stadt überragten. Eine verkommene Stadt, ein Moloch der sich selbst
gebiert und im selben Augenblicke verschlingt. Ein Schatten lag auf der Scher
benstadt, einer gottverlassenen Gosse, die heiliger nicht sein könnte. Ein
Elend zwang uns Menschen in die Sklaverei, sind wir doch nur Vieh für unsere
Herren. Ich blickte auf, vernahm die Dissonanz des Chors auf den oberen Reihen, machte mir keinen Hehl daraus. Eine von Not und Elend gebeutelte Gesellschaft, und das war dieser Ort, diese Kirche des Schmutzes, stellvertretend
für jeden Kiesel, jedes Pflaster und jedes Dach, wenn man denn eines über
dem Kopf hatte, nur ein blut- und staubbedeckter Palast größenwahnsinniger
Opulenz im Nebel, der die Stadt heimsuchte, würde nicht das schwache Licht
einer sterbenden Sonne dafür sorgen, zumindest einmal wöchentlich, Schutz
vor der Grausamkeit der Regierung zu gewähren, die derzeit mit wohl Wichtigerem vertraut war, nutzten sie doch die nötige freie Zeit für ihre blutigen
Fehden, um die Oberhand in den Parlamenten zu gewinnen. Ich lief weiter in
Richtung der unzähligen aus feinem Marmor und Obsidian geschliffenen
Bankreihen. Ein merkwürdiges Zusammenspiel der sich im fahlen Licht immerwährend bekämpfenden Elemente. Über mir ein Fresko, das die Geschichte der Scherbenstadt abbildete. Es wirkte plastisch. Beim genaueren
Betrachten konnte man einige Verfehlungen des Künstlers erkennen. Manche
Proportionen schienen gar mit Absicht obszöne Ausmaße anzunehmen. War
ich wahnsinnig? Der Wahnsinn ist ein ständiger Begleiter und Weggefährte in
dieser Welt, in der Stoßgebete nur von denen gehört werden, die sie in die Welt
gesetzt hatten. Mit messerscharfen Zähnen warteten sie auf ihre Beute in der
Dunkelheit. Einem Katz-und-Maus-Spiel geradezu entgegenflehend.


I.
Die Menge erhob sich und verschwamm mit den unzähligen Heiligen und Ornamenten, die das Licht durch die zahllosen Glasfenster, ein jedes an jeder
Seite der oktogonalen Türme, sieben an der Zahl, ein jeder entwächst wie fluoreszierende Sporen aus dem Kadaver eines toten Tieres.
Das Farbspiel und der Missklang erheben das Mittelschiff, an dessen Rand
ich mich befand, in Höhen, dessen Tiefe sich niemandem erschlossen hatte.
Die Gemeinde setzte einen Kanon an. Ein vielstimmiges anhaltendes Brummen, das im viel-farbigen Panoptikum tanzte.
Das Surren erzeugte ein mir wohlbekanntes Vibrieren. Die Stimmen erzeugten
Raum und füllten ihn mit Leben. Jeder einzelne Verstand, jeder wache Geist
entäußerte sich, drängte in den Raum, der entstand, zwängte sich mit letzter
Kraft hinein. Der Priester trat hervor und war nunmehr Dirigent, der ein Orchester zu befehligen versuchte, schwank er den Weihrauch wie einen feinen
Stab um die richtige Reihenfolge zu bestimmen, gestikulierte rigide, wies jedem seinen Platz und die natürliche Ordnung zu. Der Raum war voll, die Gemeinde bereit.
Das Getöse der gewaltigen Orgelpfeifen, die scheinbar überall installiert wurden, zerriss den Vorhang, der sich zwischen Gemeinde, Raum und Priester
befand. Tiefe Töne, die jeden in die Tiefe zwangen, verneigten sich vor der
Herrlichkeit der vor kurzem aufgetretenen geistlichen Würden. Gehüllt in alabasterweiße Laken (ich dachte an den ersten Schnee, als alles noch friedlich
war, zumindest in meiner Erinnerung, die schnell der vom Straßenschmutz
und Unrat und der Tristesse eines ewigen Herbstes wich.) behängt mit Gold,
welches ihn immer wieder spiegelte, ihn zu loben (oder zu verurteilen?).
Sein Blick, der eines strengen Schullehrers, der gerade zur Prügelstrafe an
setzte, aber dennoch etwas väterlich Sanftes innehatte, vernahm alles in sei
ner Gegenwart. Hier war man den allsehenden Augen des dunklen Pontifex
bewusst. Ewige Lebensspenderin und Herrin der roten Hallen der Scherbenstadt, unsere Göttin.
Niemand bekam sie je zu Gesicht. Nur die
Aufgestiegenen und jene, die ihr dienten. Die Fürsten dieser Welt, mit gottgleichen Mächten ausgestattet.
Wer vermag eine natürliche Ordnung anzuzweifeln, die unnatürlicher nicht
sein kann?
Meiner Tagträumerei wurde ein schnelles Ende gesetzt, als sich die Gemeinde
ein zweites Mal erhob, sich anschickte einer Unterwerfung beizuwohnen, die
man euphemistisch simpel die „Säuberung“ nannte. Wären Töne von dieser
Welt, sie wären flüssig, mitreißend, brächen sie in rostiger Schlacke wie ein
Sturzbach über einen herein.
Sturzbach.
Es führte ein großer Fluss aus der Stadt heraus, bekannt für seinen Gestank,
beseitigte er doch schnell die Probleme übervoller Häuser, aber auch glanzvoller Paläste, wenn er scharfkantige Klippen hinabstürzte, dabei die Mühlen der
Werke antrieb, wo sich Täter in Unschuld wuschen, im stickigen Schlamm
ihrer Mordlust suhlten, mit dem Blut mancher ihre Leben freikauften. Morden
ist nicht einfach ein Akt der Rache oder Verzweiflung. Mord ist ein perverses
Melodram irdischer und himmlischer Gefühle, berauschend. Todesrausch.
Der dunkle Pontifex hat seine Freude daran. Welche Stadt kann schon von
sich behaupten ihre Lichter leuchten durch den Tod. Grabeslichter. Mord ist
ein Geschäft, eine Ware, gar Kunst. Welche Stadt kann schon von sich behaupten jeder Einwohner sei ein Künstler.

Ein Kommentar

  1. Morden
    ist nicht einfach ein Akt der Rache oder Verzweiflung. Mord ist ein perverses
    Melodram irdischer und himmlischer Gefühle, berauschend. Todesrausch.
    Der dunkle Pontifex hat seine Freude daran. Welche Stadt kann schon von
    sich behaupten ihre Lichter leuchten durch den Tod. Grabeslichter. Mord ist
    ein Geschäft, eine Ware, gar Kunst. Welche Stadt kann schon von sich behaupten jeder Einwohner sei ein Künstler.

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