Archipel der Anarchie III

Der Souverän
Oder,
Über die Indigenialität

Die Zeit dreht sich vorwärts.

Ich höre ihren Klang im Kohlebecken.

Ich rieche ihr Kommen in der Räucherpfanne.

Ich blickte sie von hinten.

Als der Panzer der Gürteltiere noch nicht gemacht und die Pferde noch aufrecht schritten; in der Zeit, da die Winde noch sangen und der Flug der Vögel noch nicht bestimmt war, da erstreckte sich das Nichts wie ein Ölfilm von vorne bis hinten. Tosen und Rühren entstand aus der Mitte des Nichts. Kein Laut war noch gemacht und keine Wiederholung. Das Nichts aber erfasste das Ein-All. Auch das Dunkel war gänzlich unbekannt. Nichts leuchtete in ihm. Im Ein-All schwirrte die Teilung. Die Teilung hingegen empfand noch keinen Grund, den es im Nichts pflegte zu suchen. Es ergab sich noch kein Sinn, aber eine Bewegung entsprang der Teilung aus dem Willen zur Freigabe. Noch war keine Bedingung an die Freigabe geknüpft und niemand auffindbar, der sie empfing. Eine Zeit und zwei weitere Zeiten sauste der Wille durch das Nichts im Ein-All. Aus dem Mangel an Begrenzung entwich dem Willen die Willkür. Sodann vergrub sich der Wille in der Rührung, während die Willkür das Tosen heimsuchte. So war die Wendung geworden. In der Wendung erfand sich der Grund. Aus dem Grunde erfasste sich der Sinn der Bewegung. […] Sogleich vollzog sich die Teilung zwischen Ein-All und All-Einem. Das All-Eine wanderte eine Zeit inmitten der Felder […] Viele Zeiten legte es Laute an, die sich verbanden. In der Verbindung kam der Sinn ins Sein.“

Hymnus Creacredibi I


Ein Gericht
§ 21
Die Anarchen besingen die Taten dereinst geschlagener Schlachten Tag um Tag.
Damals, als die Freudenfeuer noch die Macht derer brachen, die,
erwählt von der gehörnten Ratte, Stein für Stein des Weltenrunds verbogen,
bis ihr Geist ruhelos auf der Fläche kreiste.
§ 22
Die Anarchen kennen keinen Missbrauch der Macht, denn Macht ist unsichtbar, haftet dem
Ding an. Macht ist ein Schatten, geschmiedet im Rauch der roten Esse.
Die Anarchen kennen keinen Rauch, nur die Asche ihrer Erkenntnis, die sie in Eden ausstreuen, wo die Bäume süße Früchte tragen.
§ 23
Ist die Ernte eingefahren, treffen sich die Anarchen in der Mitte des Archipels,
um zu beraten. Groß ist der Drang nach Veränderung, doch die Uhren der
Anarchen stehen still, denn sie kennen keine Zeit. Zeit ist Gegenstand der
Macht und der Mächtige gebraucht sie, um den Eifer der Masse zu messen.
Ein Fluch ist der Eifer,
denn er dreht sich in Spiralen,
baut Türme,
suhlt sich in den Qualen
und vergisst das Recht die Ernte zu bewahren.
§ 24
Hört, ihr Anarchen,
hört den Ruf des Bewahrers, der da ruft zum Fasten.
Die Anarchen kennen keinen Überfluss, denn ein jeder folgt ganz seiner Zeit,
um sich zu nehmen, was ein anderer kann geben,
dass er sich nimmt, was der nächste find’t.
§ 25
Als der Mensch die Maschine zertrümmerte, da entwich die gebannte Stunde,
verfing sich im Schatten der letzten Wolke und tat solch frohe Kunde:
„Gefesselt ward ich vielfach sehr,
geteilt in zwölf durch einen,
gewiss, ich bin zurückgekehrt,
dass alle Tage, alle Jahre ich euch diene und der Ernte Segen ewig währt.“
§ 26
Ein jedes Haus birgt eine Familie, eine jede einen Schatz.
Ein jedes Dorf birgt einen Sprecher, ein jeder einen Satz.
Ein jeder gewoben,
gesponnen im Hause des Bewahrers,
wo finden Plenen statt,
zu klären,
was es braucht,
um der Anarchen Leben so annehmlich wie möglich zu gestalten.
Den Schatz, ihr wollt ihn finden? Er liegt im tiefsten Winkel eurer Seele,
wenn ihr mimt der Hummel klang,
doch zäher Honig tropft und tropft und trübt der Nachtigallen Sang.
§ 27
Jeder Anarch ist Ausdruck seiner ihm vom Schöpfer verliehenen Macht und
seines Vermögens. Jeder Anarch sein eigenes Volk,
das strömt im Rhythmus des Libellentanzes ein ins Hause des Bewahrers,
um dem Wanderer, dem Feind der gehörnten Ratte, zu danken.


Zoon Politikon
§ 28
Im Hause des Bewahrers gibt es zwölf Sitze. Elf für die elf Gemeinden des
Archipels. Der zwölfte jedoch ist für den Wanderer, der allzeit Obdach findet,
wo sich seine Wege kreuzen.
§ 29
Ruft der Bewahrer, so versammeln sich die Sprecher und beschließen, was
der Lauf der Stunde längst von ihnen eingefordert hat.
§ 30
Begeht ein Anarch eine Untat,
was selten passiert,
da die Anarchen einander kein Unrecht anzutun brauchen,
weil ein jeder von Kindesbeinen an lernt,
dem Nächsten, dem Anderen,
Demut zu erweisen,
so versammeln sich die Sprecher,
um zu richten.
§ 31
Die Anarchen kennen nur die Wahrheit und so muss der Täter dem Opfer sein
Herz öffnen, um sein eigen‘ Tür und Tor zu verschließen,
auf das er mit ihm wandere, bis sich die Wege wieder kreuzen.
Gerät eine Gemeinde in Not,
so sind die anderen verpflichtet ihre Besten zu entsenden,
um der Jammer Zwietracht zu beenden.
§ 32
Die Anarchen erliegen keiner Täuschung, denn die Sprecher sind Wesen von
hohem Stande und entstammen aus der Mitte einer jeder Gemeinde. Jede Familie beherbergt einen Sprecher, denn die Anarchen entscheiden im fairen Spiel, wer ihre Interessen bewahren soll.
Ihr Schatz ist der Zufall und ihr Sprecher das Glück.

K4rlml0n
Karim (Abdul Absolem Alhazred) lebt seit fünfundzwanzig Jahren auf dieser Welt. Seine Jugend und Kindheit verbrachte er auf Reisen durch den europäischen Kontinent. Israel/Palästina ist und bleibt Sehnsuchtsort und Muse. Seit dem Jahr zweitausend-einundzwanzig studiert er Theologie und die Sprachen und Kulturen des Judentums. Er engagiert sich beruflich in der Vermittlung von Sprache und Bibel.

6 Kommentare

  1. § 33
    Der Souverän spricht Recht. Deshalb hat er immer recht. Er unterliegt keiner Täuschung.

    Anwendungsberordnung
    Sollte vorstehender Vers nachweislich über einen hinreichend langen Zeitraum grob verletzt sein, möge ein Rechtsgelehrter vom Stamme der Hippokraten als Gutachter hinzugezogen werden.

  2. „Was hast du nochmal gerade eben gesagt?“

    Der Souverän
    Ein Gericht
    Zoon Politikon

    „Ich sprach davon, wie sie sich kennenlernten, glücklich waren und sich liebten alle Tage, bevor die letzten Tage anbrachen.“

  3. Die Texte sind so herrlich anarchisch. Das gibt Hoffnung in dem ganzen Dilemma des Verschwindens. Sie lassen Aluhüte – und anderes aus Blech, Metall und Eisen einschmelzen.

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