Klara

Ihre Karriere begann in der Bahnhofstoilette. Dort lernte sie den Wert von Hygiene kennen, den ihr die Besucher mit Kleingeld, das auf dem Porzellanteller klingelte, nahebrachten. Reinlichkeit blieb für sie kein abstraktes philosophisches Thema, gut für Abschlußarbeiten, sondern wurde unmittelbar geschätzt. In den Mußestunden, wenn Flaute herrschte auf der Toilette, ein Zug Verspätung hatte oder die Mitropa Stromausfall, lockte es Klara doch und sie begann, die Philosophie der Reinheit zu erforschen.

Anfangs lebten die Völker in wildem Chaos (Pleonasmus: Wildheit ist ja schon ein Chaos), sie lebten im Schmutz und in buntem Durcheinander. Wer der Vater von wem war, wußte keiner. Alles, was Tradition, Identität und Herkunft bedeutete, blieb an den Müttern hängen. (Auf manch einer verstreuten Südseeinsel ist es ja heute noch so.) Es gab weder Toiletten noch Ehebetten. Klara war entsetzt und zugleich fasziniert. Die Menschen wurden kaum älter als 30 Jahre. Doch was sie in dieser kurzen Spanne erlebten, das paßte auf keine Kuhhaut.

Stichwort: Kuh. Die Viehhaltung war es, die endlich zum Durchbruch führte. Das Leben der Nomaden auf der kargen Erde war hart. Man mußte ständig mit der Herde weiterziehen, kannte keine Bleibe, was vor allem die Mütter quälte. Sie wären lieber in Höhlen hocken geblieben, um zu stillen und die Kinderrücken zu kraulen, so aber mußten sie in Zelten hausen, die jeden Tag abgerissen werden konnten, wenn das Vieh kein Gras mehr fand und brüllte. Wann die Sippe weiterzog, das bestimmten die Hüter der Herde – allesamt Männer, die sich den lieben langen Tag fernhielten vom eigenen Nachwuchs. Statt dessen weilten sie bei den Tieren. Nicht um sich mit ihnen zu necken oder mit ihnen zu spielen, sie kümmerten sich nur um nützliche Angelegenheiten: die Milch aus dem Euter zu pressen, das Fell zu scheren, das Tier zu schlachten.

Die Männer bestimmten über die Zeit am Rastplatz und sie bestimmten über die Nahrung. Von ihnen hing es ab, ob gehungert oder geschlemmt wurde. Sie bestimmten über die Feste. Bald schon zog zornige Blicke auf sich, wer ohne ihre Erlaubnis ein Lied summte. Damit begann die Katastrophe. Als nächstes setzten die Männer durch, daß jeder nur noch seine Frau oder seine Frauen besaß. Wer viele Tiere auf die Wiese führte, konnte auch viele Frauen und viele Kinder ernähren. Wer nur ein einsames Schaf sein eigen nannte, blieb sein Lebtag Junggeselle. Bestimmten früher die Frauen, wer zu ihnen kommen durfte, so hing dies nun von der Erlaubnis der alten Männer ab. Das nannten sie Hochzeit. Erst wenn allen im Dorf bekannt war, welche Frau welchem Mann gehörte, durften sie sich paaren und wehe, sie ließ sich auf einer fremden Weide blicken. Das kam Diebstahl gleich, Raub, und konnte den Kopf kosten. Auch untereinander kannten die Männer kein Erbarmen, wenn sie sich gegenseitig ertappten.

Auf einmal legten die (reichen) Männer Wert darauf zu wissen, daß sie der Vater ihrer Kinder waren, daß die Frau sie als Erzeuger zuordnen konnte. Nebenbuhler wurden um die Ecke gebracht. Sie erfanden die Eifersucht und verbreiteten den Glauben, daß sie ein Zeichen der Liebe sei, während sie in Wirklichkeit doch nur eine Ausgeburt des Besitzdenkens war. Die Frau degradierten sie zu einem nützlichen Gebrauchsgegenstand (schon wieder Pleonasmus: oder gibt es auch nutzlose Gebrauchsgegenstände, jawoll, dachte sich so mancher Mann im Stillen, die Frau sei ein nutzloser Gebrauchsgegenstand). Wenn sie hübsch war, konnte man sie guten Gewissens als Einrichtungsgegenstand bezeichnen, ähnlich einer zarten, mit Ornamenten verzierten Vase. Den Tag verbrachten die Männer – wie sie glaubten, seit eh und je – bei den Herden. Stinkend und dreckverschmiert kehrten sie abends heim. Die Vase wollte eigentlich eine duftende, freundliche Blume in sich aufnehmen – Fehlanzeige. Die Männer blieben stinkend und dreckig.

Dafür gelang ihnen eine umwälzende Entdeckung: Die Tiere wuchsen schneller, wurden größer, gaben mehr Milch und spendeten festeres Fleisch, wenn sie darauf achteten, wer wen besprang. Die Männer lernten nachzuhelfen. Sie überwanden ihren anfänglichen Ekel (immer ist Ekel nur anfänglich, dann wandelt er sich zur Lust), und griffen den Kühen in die Gebärmutter, um sie mit den Samenzellen des besten und stärksten Bullen zu befruchten. Einer für alle, alle aus einem. Zuchtwahl nannten sie diesen Trick, ein dreckiges, stinkendes Wort, gleichgültig, wenn es eine höhere Ausbeute versprach.

Über das nächste Kapitel staunte Klara nicht schlecht: Hatte sie bisher geglaubt, daß die Frau wenigstens Herrin im Haus und im Bett war, wenn sie die Herrschaft schon nicht über die Welt ausüben konnte, so mußte sie erkennen, daß es nur dem äußeren, kosmetischen Anschein nach so war. In Wirklichkeit übertrugen die Männer das Prinzip der Zuchtwahl – kurz nachdem sie seine Wirksamkeit beim Wachstum der Herden entdeckt hatten – auf die Frauenwahl. Nur edle und kluge Schönheiten erlangten das Recht, zur Bettgenossin eines reichen Hirten gekürt zu werden. Denn der Hirt fand Gefallen an edlen und klugen Kindern. Genial war diese Idee der Reinheit. Man begann, den Adel zu züchten. Und die auserwählten Damen züchteten eifrig mit. Es erfüllte sie mit Stolz, keine armselige Dirne mehr zu sein.

Die Dirnen aber überlegten sich den Plan für einen Rachefeldzug. In ihrer Erinnerung besiedelten in früheren Zeiten zahlreiche (weibliche) Gottheiten die Erde. Das war wörtlich gemeint. Die drallen Göttinnen nannten Erdaltäre ihr eigen, wo die Frauen sie aufsuchten, um Blumenkränze abzulegen und zu tanzen. Dafür ließen die Erdgöttinnen es sprießen und wachsen. Die Frauen brauchten nur ein paar Wochen später zurückkehren und konnten freudig ernten. Mit Stöckchen stocherten sie ein wenig herum und die nahrhaften Wurzeln flogen ihnen aus der lockeren Erde entgegen. Die Dirnen erinnerten sich an dieses ursprüngliche Paradies (oh, nicht schon wieder: welches Paradies ist denn nicht ursprünglich), verließen die Weideplätze, wo die Kühe keinen Halm lange stehen ließen und zogen um in die Wälder, wo sie Kräuter zogen und Blüten wild wachsender Pflanzen pflückten.

Die Hirten blieben mit ihren hübsch anzusehenden, aber nutzlosen Hofdamen allein – das aber ließen sie sich nicht gefallen. Wenn die Dirnen und Mägde schon nicht gewählt worden waren, so sollten sie verdammtnochmal schlechthin zur Auswahl stehen, darin lag ihre Bestimmung. Weit gefehlt, wer vermutet, daß sich die Hirten eines zärtlichen Mittels bedienten, um der abtrünnigen Frauen habhaft zu werden. Sie hätten ja als Bienenschwarm in die Wälder fliegen und sich auf all die Blüten setzen können, deren Duft die Frauen betörte. Weit gefehlt! Die Hirten brannten die Wälder nieder, rodeten die Wurzeln und gingen dabei so radikal vor, daß ihnen die nächste umwälzende Entdeckung geradezu in die Hände fiel:

Während sie die Wurzeln aus dem Boden zerrten, wurde die Erde aufgewühlt, durchgemischt, umgepflügt. Fiel der Same einer Pflanze darauf, konnte er in kürzester Zeit keimen. Rasch holten die Männer ihre gezähmten Bisons, die sie Stiere (Inbegriff von „Tiere“) nannten, banden ihnen die freigelegten Wurzelenden an den Schwanz und hieben mit Stöcken auf die Tiere ein, damit sie in Trab kamen: die Geburtsstunde des Pfluges. Endlich wurde dem Wildwuchs der Garaus bereitet, die Erde in einen reinen Tisch verwandelt. Mindestens einmal im Jahr wiederholten sie die Prozedur, am besten zweimal.

Rotbraun leuchtete die fette Krume und lächelte dem Himmel entgegen. Kein Grün, kein Blütenbund störte das Auge. Die abtrünnigen Frauen harrten sprachlos am Rand. Dorthin hatten sich auch Käfer und Würmer geflüchtet. „Rain“ nannten die Männer den Feldrand fortan. Denn er war nicht ganz rein. Diesen Streifen gestanden sie der Natur zu. In den kommenden Jahren erlebten sie jedoch ein blaues Wunder. Der Boden, dank des Pfluges so wunderbar bereinigt, verlor an Kraft und Fruchtbarkeit. Sprossen die Nutzpflanzen im ersten Jahr aus der Saat, daß der Bauer nur so jauchzen konnte und mit der Sense die Ernte einholen mußte, so blieben die Pflanzen im zweiten Jahr mickrig und klein. Im dritten Jahr hatte sich die Erde in Sand verwandelt, der trocken und staubig zwischen den Fußzehen kitzelte.

Die Männer fluchten, hungerten und experimentierten. Bis man vergaß, einen Fladen Bisonkot vom hübsch aufgeräumten Feld wegzutragen. Klara Klarsack erinnerte sich düster an die Arbeit, mit der sie ihr tägliches Brot verdiente. Dort räumte sie täglich Fladen vom „Feld“ – ob sie auch einmal einen Haufen vergessen und liegenlassen sollte? Ob dies zu einer umwälzenden Entdeckung führen würde oder nur zu ihrer Entlassung ins Heer der Arbeitsuchenden? Klara verwarf schnell diesen Gedanken und wandte sich wieder den Vorahnen zu. Aus dem Haufen, der zufällig liegenblieb, wucherte es wild hervor, während der Boden links und rechts vor sich hin bröselte. Die Hirten waren begeistert: Bisondung besaßen sie in rauen Mengen, sie mußten ihn nur von der Weide aufs Feld tragen.

Nun, wie die Geschichte weiterging, muß nicht erzählt werden. Es genügt das Ende: Chemie bringt Brot, Wohlstand und Schönheit. Klara Klarsack nickte unwillkürlich beim Lesen. Chemie hilft dem Pflug bis heute, sein Tagwerk auszuführen. Die Idee der Reinheit war dank der partiellen, temporär notwendigen Verunreinigung, die der Dung verkörperte, gerettet und die Chemie machte eine gänzlich saubere Sache draus. Welche Freude! Klara spürte ihr Herz hüpfen. Das Schicksal der armen Frauen am Rain hatte sie vergessen. Von ihnen war in der folgenden Geschichte keine Rede mehr.

Am schönsten zeigte sich die Reinheit in einem Getränk, das die Hirten nun auf den Feldern anbauten. Früher hatte es man in der unreinen Form, in der man es genoß, „Met“ genannt. Nach dem Honig, aus dem es gewonnen wurde. Nachdem das Gleichgewicht von Pflug und Dung übers Jahr auskömmliche Ernten zeitigte, konnte man das nach dem Backen überflüssige Korn zu einem reinlichen Trunk vergären. Die Gebote, seine Herstellung betreffend, stellten sogar die biblischen Gebote in den Schatten. Letztere vergaß oder verdrängte man, sobald sich eine Gelegenheit bot, jedenfalls hatte man sie nicht zur Hand, wenn man sie brauchte, und es wurde unbekümmert weiter gelogen, gestohlen, betrogen und gemordet. Ja, es entzündeten sich Volksaufstände und Kriege an der Frage, ob man zur Prozession die Kirche im Uhrzeigersinn oder gegen den Uhrzeigersinn umrunden solle. Als ob das etwas an der Gottverlassenheit unserer lieben Frauen geändert hätte!

Hinsichtlich des Geschmacks des reinlichen Trunkes war man sich dagegen schnell einig. Welch Wunder: eine Geschmacksfrage und so viel Einhelligkeit! Kein Streit, kein Zank, von wegen! Bier mußte das Getränk heißen, eine Konjugationsform des Pronomens „wir“! Die Männer wußten nicht nur, welche Frauen schön waren, sie hatten auch ein untrügliches Gespür dafür, was schmeckte. An das Reinheitsgebot, die Herstellung des Bieres betreffend, hielten sich auch jene Brauer (eine Abart von „Bauer“), die ihm vom Gesetz her nicht unterworfen waren. Freiwillig. Das Reinheitsgebot wurde sowohl zum offiziellen als auch inoffiziellen Standard erhoben. Es verhalf dem Bier, Nationalgetränk aller Völker zu werden und jedes behauptete, sein Erfinder zu sein. Zu Recht.

An dieser Stelle unterbrach Klara Klarsack ihre Lektüre. Ein Rülpser schreckte sie auf. Da hatte sich ein Vertreter dieser dicklichen, Flüssiggetreide tankenden Monster an ihr vorbeigeschlichen, ohne seinen Fuffziger auf dem Porzellanteller klingeln zu lassen. Seine Relikte würde sie nicht beseitigen, bäumte sich die arme Dirne, die sie war, im Traum auf. Wir wissen nicht, was aus diesem guten Vorsatz geworden ist.

Marquis de Passade
geb. am 2. Juni 1940 in Triest, slowenischer Adliger mit französischen Wurzeln, wurde bekannt dank ei-ner Reihe kirchenfeindlicher und philosophischer Essays, die er im Gefängnis schrieb. Nach seiner Ent-lassung wanderte er aus und nahm eine halbe befristete Stelle an einer deutschen Hochschule an, um die Sadismen des akademischen Prekariats zu studieren. Passades Werke nehmen Kritiken am effizienzbasierten Studium vorweg, dessen Auswirkungen erst mehr als ein Jahrhundert später im Niedergang des westlichen Zivilisation sichtbar werden.

5 Kommentare

  1. aus aktuellem anlass sage ich ihnen: es gibt auch klo-männer. heute nämlich erst sah ich einen, als ich in der firma die damentoilette betrat. der junge herr im roten overall, der den mit putzmitteln beladenen wagen vor sich herschob, passte sich hervorragend seiner umgebung an. fazit: lieber marquis, sie müssen ihre geschichte wohl noch einmal revidieren und neu schreiben, aus einer anderen perspektive.

  2. … und als titel beim perspektivwechsel schlage ich possen vor wie „reinhold“ oder „saubär“ – warum habe ich nur einst die kategorie satire auf den plan gerufen…

  3. Ja klasse! :-)So was liebe ich! Das liest man doch gern so nebenbei und schlägt sich die Schenkel. Ab damit ins Gender-Kabinett, rein in die Schulbücher Biologie, Literatur, Sachkunde (Ackerbau und Viehzucht)und natürlich Philosophie. Ich verweise gern auch weiter zu Furch(t)en, 5.10.2011:
    „Die Frage ist, wann in der Geschichte unseres Kosmos diese Jagd begann. Mit der angeblich naturgemäßen Verteilung von Jägern und Sammlern? Weil die Samen in die Erde fallen, der Speer sich ins Fleisch drängt? Gelobt sei die Fortpflanzung der Seepferdchen, aus Mangel an Gelegenheit wird von so einem Pferd beides selbst erledigt: Ei und Milch. Die wollmilchsauende Kuh sozusagen.“

  4. Eine Text-Analyse:

    1. Satz: „Ihre Karriere begann…“ Wie wir wissen, sollte bei einem guten Text der erste Satz in nuce den gesamten Inhalt tragen. Nun müssen wir uns also fragen: welche Karriere? Ihre Karriere als was? Fragen, die sich die werte Leserschaft stellt, Fragen, die ins Leere laufen, Fragen, die an eine weiße Wand prallen.

    2. Das Corpus (Delicti) des Textes. Hier hat ein Schlawiner wohl geglaubt, ein bisschen heruntergeratterte Kulturgeschichte, Steinzeit, Altertum, Neuzeit, verblendet mit lauen Possen und etwas Deutungshoheit, machten schon einen gewaltigen Textmittelteil aus. Doch leider geriet dieser so breitenlastig, dass er lediglich unsere Bildschirme überrollt, anstatt uns einen faden Abend abenteuerlich zu gestalten.

    3. Der Schluss: Hier gesellt sich zum gemeinsamen Lesen der gemeinsame Rülpser. Als Schlussakkord einer Mahlzeit mag das genügen. Doch als Ende einer Satire – da hat sich jemand wohl Unterhosen und Büstenhalter nicht fest genug angeschnallt.

    Fazit: Setzen!

  5. Naja, lieber Schwan, da will ich Ihnen widersprechen und mich hoffentlich dabei nicht als dummes Entlein, sondern nur als Sofa-Kartoffel outen: Mir gefällts! Der Text erinnert mich an den Humor der satirischen Monatsvisite „Neues aus der Anstalt“ (ZDF) und an „Absurdistan“, ein deutscher Film von 2008, der erst vorgestern mal wieder im TV lief. Gehen Sie dazu mal auf wikipedia. Ja, auch der letzte Satz ist dabei genau zu lesen: „Die Frankfurter Allgemeine Zeitung beanstandete, keine Idee sei Helmer (dem Regisseur) „dumm genug“, der Film langweilig und nicht komisch: „Die Jury des Bayerischen Filmpreises muss sich bei ‚Absurdistan‘ derart amüsiert haben, dass sie um den Spezialpreis einfach nicht herumkam. Ein Witz kommt selten allein.“
    Ansonsten empfehle ich das laut lesen, so nähert man sich stark dem Humor eines Anstaltleiters Urban Priols. Von Hölzchen auf Stöckchen, da muss das Gehirn schon gut geölt sein, um all die Sprünge und Windungen mitzumachen. Möchten Sie einen Tropfen?

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