Saxon Road

Viele Jahre ist es her, einige Umzüge liegen hinter mir, da lebte in der Saxon Road in Saint Werburghs in England ein Mann namens Hardy. Seinen wirklichen Namen werdet ihr nicht erfahren, es genügt, daß ihr wißt, daß er sich selbst Hardy nannte, nachdem die Eltern ihn auf den Namen Adolf hatten taufen lassen, kurz vor Ende des Kriegs.

Hardy lebte in England so selbstverständlich wie nur irgendeiner. Er war verheiratet mit einer Engländerin, hatte eine Tochter mit ihr, die in Afrika jobbte, lebte geschieden in einem kleinen Haus am Stadtrand, das ihm nicht gehörte, inmitten einer Siedlung ähnlicher kleiner Häuser mit einem hohen Anteil Farbiger in der Nachbarschaft. Hardy grüßte jeden. Sobald die Tür sich zur Straße hin öffnete, Good morning! Hello! How are you?!, zu jedem, der eben vorüberging oder zufällig in Rufweite des Vorgartens oder auf der Straße stand. Kam der Gruß nicht zurück, wurde Hardy laut, Good mornig!! Hello!! How are you?!… Bloody bugger!

Auch ich war einer derer, die seinen Gruß zunächst nicht mit derselben Freizügigkeit hatten erwidern wollen, doch wir lernten uns kennen, und zu meinen angenehmsten Stunden in der Saxon Road gehörte die Muße in Hardys Wohnzimmer, hinter dem bay window, auf einer alten, mit einer etwas filzigen Decke überzogenen Couch, die Bücher durchblätternd, die dort im Regal standen. Tolstoi, Krieg und Frieden, auf Englisch, Bildbände zu England, ein Exemplar von Bruce Chatwin, What am I doing here? Die Frage stellte ich mir selbst, doch ich beantwortete sie mit Fantasieritten zu Ilfracombe, im Norden Devons, wo das Meer so schön schien wie in Portugal, und nie werde ich vergessen, wie die polnische Kavallerie, auf Seiten Russlands kämpfend, gegen Napoleons Truppen anritt und heroisch in der Strömung eines tiefen, breiten Flusses unterging.

Hardys kleines Wohnzimmer war cosy und meist leer. Das machte es mir noch lieber. Ich habe es rot in Erinnerung, vielleicht durch einen Teppich, wahrscheinlicher aber durch die Wände, die dunkelrot gestrichen gewesen sein dürften, eine Farbe, die ich in englischen Wohnzimmern nicht allzu oft gesehen hatte.

Hardy nannte mich Marcuse, wenn er nach Hause kam, die Tür ins Schloß werfend, auf dem Weg in die Küche, nach hinten, oder nach oben, die Treppe im Flur hinauf. Hello, Marcuse! Er hatte mich durch das seitliche Fenster aus dem Vorgarten gesehen und erwartete einen ähnlich saftigen Gruß, den ich ihm jedoch verweigerte, so lange, bis er auf dem Absatz umkehrte und sich über mein Schweigen beschwerte. Danach war es, Hello Marcuse! Nabend, Hardy!

Das ging so etwa ein Jahr lang oder etwas länger, bis Franziska bei ihm auszog, da Hardy das Land verließ und nach Deutschland zurückkehrte, um sich zur Ruhe zu setzen. Wir überlegten, das Haus zu kaufen, das sicher billiger war als irgendein anderes in derselben Stadt, unser Geld aber reichte auch dazu nicht.

Ich verdanke Hardy eine Reihe kleiner Geschichten, einen Tisch und die Hilfe bei einem Umzug. Er war, wie er sich selbst sah, easy going, wurde von seinen Freunden hinter seinem Rücken the professor of bad ideas genannt, was ich erst später erfuhr. Verglichen mit Hardy komme ich mir noch immer spießig vor. Er unterrichtete als assistant teacher an einer Schule, hatte tausend Nebenjobs, betreute junge Mitarbeiter eines Friedensdienstes in Coventry und war deshalb oft unterwegs. Das Wohnzimmer war dann leer, Franziska und ich allein im Haus oder in dem kleinen Garten, in dem Franziska Schneckenrennen veranstaltete, die sie fotografierte.

Doch zurück zu Hardys Geschichten. Eine davon zeigt ihn selbst in der Hauptrolle, wenn auch in einer unvorteilhaften, doch das macht sein Geständnis nur größer. Es ist der junge Hardy, in Deutschland noch, der erfolgreich einen neuen Namen erstritten hatte, ein junger Wilder auf dem Motorrad, der mit waghalsigen Manövern den Mädchen imponieren will und dabei rücklings vom Motorrad fliegt, sich den Kopf verletzt und lange im Krankenhaus liegt. Ich höre Hardys weiche, fast hauchende Stimme, wie er von dem Unfall erzählt, der ihn das Gedächtnis verlieren ließ, ein Grund, weshalb er von der Schule abging und später auf der Abendschule sein Abitur nachmachte. In seiner Stimme klang das Eingeständnis von Schuld mit, eine Art Selbstvorwurf nach so vielen Jahren. Seine Vitalität aber war ungebrochen.

Bärtig, grau, mit immer schütterer werdendem Haar, liebte er die Verkleidung, schlüpfte am Abend in verschiedene Rollen, ein hellblaues gestricktes, wollenes Käppi, in die Stirn gezogen, ein charmantes, verführerisches Lächeln, outete er sich beim Essen als queer, genoß den Eindruck, den es machte, und verwandelte sich vom Piraten in einen alternden Lustknaben, vom herumalbernden landlord in einen ernst dreinblickenden Politphilosophen. A character. Ich mochte ihn, brachte ihm aber nicht genügend Respekt entgegen, mißtraute ihm zudem, sah in ihm kurzzeitig den Verführer junger Knaben, was aber wohl ein völlig grundloser Verdacht war.

Kam er nach Hause, bat er Franziska um eine lange Massage, schwärmte von einer Vormieterin, die in Sachen Massage eine wahre Künstlerin gewesen sei, und schwärmte umso mehr, als Franziska ihm die Massage nicht zukommen ließ.

Ich sehe Hardy mit einer angebrochenen Weinflasche, in dem der Korken schwimmt, bei einer gemeinsamen deutschen Freundin, Renée, ankommen, eingeladen zu einem Essen. Da wir doch nun einander schon kannten, könnten wir es uns doch leisten, aus Förmlichkeit zu verzichten, der Wein sei gut und erst seit kurzem geöffnet, Prost! Ich höre ihn Renée, Na, Alte! nennen und sehe Renées leicht süßsaures Lächeln. Ich höre ihn lachen, etwas kurzatmig, immer um eine Geschichte bemüht, durchdringende blaue Augen, wie die Hardy Krügers, nach dem er sich nannte, das Lachen konnte glucksend werden, wie bei einem Jungen, feixend, schadenfroh, doch nie böse. Ich sehe ihn, am Steuer seines kleinen weißen Vehikels, schnittig die Kurven nehmend, den Arm zum Gruß herausgestreckt, lässig, ein Gesicht, das den anderen zum Lachen, zum Lässigsein aufforderte, immer in Bewegung, sehe ihn das Haus verlassen, um in einem Pub gemeinschaftlich Fußball zu schauen, eine ganz bestimmte Kneipe in Gloucester- oder Cheltenham Road, die ich nicht kannte. Und ich verdanke ihm eine weitere Geschichte, die Geschichte von Scouser, dem er zugeneigt war und von dem ein Foto in seiner Küche hing.

Dies ist die Geschichte von Scouser, wie ich sie gehört habe. Die Geschichte eines alten und wahrscheinlich einsamen Mannes aus Liverpool, der jahrelang in Bristol gelebt hatte, vermeintlich arm und ohne Freunde, ein Außenseiter wohl auch durch seine Homosexualität und Physiognomie. Klein und gedrungen, bärtig, das Gesicht von einem grauen Vollbart bedeckt, sommers wie winters mit einem Strohhut unterwegs, Captain Birds Eye, ein ewiger Wanderer. So erscheint er noch immer in meiner Vorstellung. Gesehen habe ich ihn nie. Außer auf einem Foto in Hardys Wohnzimmer.

Scouser, so die Geschichte, hatte viele Jahre inkognito Lotto gespielt und eines Tages offenbar einen größeren Betrag gewonnen. Niemand wußte es. Scouser lebte am Stadtrand in einer Bude, ich stelle sie mir vor wie die Hütte in einer Kleingartenanlage, und hatte kaum Nachbarn, keine Verwandte. Er verkaufte Eis und lebte zurückgezogen. Er brüstete sich mit dem Geld nicht, verpraßte es nicht und sagte anscheinend niemandem etwas. Und doch kaufte er offenbar groß ein, gab alles Geld dafür aus. Erst nach seinem Tod wurde es entdeckt.

Als man die Tür zum angrenzenden Schuppen aufbrach, flatterten hunderte bunter Kanarienvögel in einer riesigen Voliere, bis dahin unentdeckt, niemand wußte, daß es sie gab, kreischten und wirbelten Staub auf. Seltene, wertvolle Exemplare, in einer Wolke aus Federn und Flügeln, Singstimmen wie in einer Oper, eine höher als die andere. Ohrenbetäubend und so überraschend, als würde Scouser selbst vom Tod auferstehen.

Hardy starb in Deutschland, im Krankenhaus, an Apparate angeschlossen. Lange, nachdem auch ich aus England weggegangen war. Vor seinem Tod versammelte er die Freunde um sich, bat, die Apparate auszuschalten, und starb in ihrem Beisein, friedlich. Seine Leiche wurde verbrannt. Die Freunde nahmen die Asche mit sich oder einen Teil davon, fuhren nach Wales, auf den Gower, leerten die Asche ins Meer und schwammen durch sie.

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