Zwischen Himmel und Erde

Zur Anthologie taiwanischer Literaturen, herausgegeben von Thilo Diefenbach

Ich beginne gerne von hinten. Wohl wissend, dass chinesische Bücher dort beginnen, wo europäische Bücher aufhören. Sie werden von hinten aufgeschlagen und rückwärts aufgeblättert. Vor mir liegt „eine Anthologie, die nicht übertroffen werden wird“ – mit diesem Superlativ von Paul Ingenday auf der vierten Umschlagseite eingestimmt, schlage ich das Buch auf. Türkisblaue Vorsatzseiten erinnern an Meeresrauschen und einen strahlenden Himmel. In Tintenherz hat Cornelia Funke das Vorsatzpapier mit dem Vorhang im Theater verglichen: Zu Beginn öffne es den Blick auf die Bühne, auf der das Buch spielt; am Ende symbolisiere das Vorsatzpapier, wie sich der Vorhang wieder schließt. In der Anthologie Zwischen Himmel und Meer ist das Vorsatzpapier vorn und hinten türkisfarben – es ist also egal, ob wir hinten oder vorn zu lesen beginnen. Wenn wir – europäisch von hinten, chinesisch von vorn – anfangen, begegnet uns zuerst ein Foto, das von den Bergen Taiwans Ostküste übers Meer hinweg geschossen wurde. Ausgedehnte Pinienwälder, die abrupt an der Wasserkante enden, wo der Himmel mit Horizont ansetzt. Der Betrachter blickt gewissermaßen in Richtung der Westküste Amerikas. Eine Perspektive, um die es im Buch explizit nicht geht, die aber unausgesprochen methodisch zugrundeliegt. Das Foto trägt keinem Namen, nur einen Hinweis als Bildunterschrift: siehe Seite 20. Also blättern wir im europäischen Sinn nach vorn, traditionell chinesisch ans hintere Ende des Buches. Hier offenbart der Herausgeber und Übersetzer, dass ihn dieser Anblick zum Titel des Buches inspiriert habe. Es handelt sich um ein altes Motiv: Himmel und Erde, der Raum zwischen den vier Meeren – das ist schon in der altchinesischen Literatur die natursymbolische Beschreibung des „Reiches“, des herrschenden lokalen Staates. Sympathisch, dass das Buch mit einem Epilog in Form eines zweisprachigen Gedichts endet (bzw. anfängt), einem Gedicht, das die Insel Taiwan auf geradezu universelle Weise als Menschheitsthema beschreibt: „Ich mag den Umriss dieser Insel … In diesem Augenblick, da kehren wir – postume Kinder unsrer großen Erde – zurück zu einem schlichten Glauben.“

Die Anthologie selbst ist nicht zweisprachig konzipiert, das hätte ihren Umfang von knapp 550 Seiten nahezu verdoppelt. Doch: immerhin die Gedichte sind auch im Original wiedergegeben. Die ausgewählten Texte repräsentieren – und das ist erstmalig – sechs Sprachen, die in der Kultur und Geschichte Taiwans eine Rolle gespielt haben: indigene Sprachen, klassisches Chinesisch, Taiwanesisch, Hakka, Japanisch und Mandarin. Den Texten ist ein informatives Vorwort des Herausgebers und Übersetzers Thilo Diefenbach vorausgeschickt, das die wechselvolle Geschichte der Insel knapp zusammenfasst und zugleich die chronologische Gliederung des Buches erklärt. Tatsächlich dürfte es ein Alleinstellungsmerkmal dieser Anthologie sein, sich im ersten, etwa einhundert Seiten umfassenden Teil der mündlichen Überlieferung – in modernes Chinesisch transkribierten – Texte der austronesischen Ureinwohner Taiwans zu widmen. Die 16 indigenen Volksgruppen bilden heute nur noch zwei Prozent der Bevölkerung. Sie wurden in der zwischen Holländern, Japanern und Han-Chinesen wechselnden Fremdherrschaft zunehmend unterdrückt und verdrängt. Erst in den letzten Jahrzehnten erfahren die Sprachen der Ureinwohner mehr Akzeptanz und Förderung. Bemerkenswert ist die lange Ballade von der Überfahrt nach Taiwan, im Buch als Elegie bezeichnet, tatsächlich eher ein Lamento, ein Klagelied, ja sogar eine Taiwanbeschimpfung, von einem unbekannten indigenen Autor, niedergeschrieben in chinesischen Schriftzeichen um 1938. „Ich rate dir dringend ab: setze niemals nach Taiwan über! Taiwan ist so etwas wie die Schwelle zum Dämonenreich: Tausende Menschen kommen hierher, nur um die Straße des Todes zu betreten, und wenn sie dann tatsächlich sterben, kümmert das niemanden.“ Diese Sätze klingen nach Ironie und Sarkasmus, sie beinhalten eine doppelbödige Wahrheit.

Der zweite Teil mit Beispielen aus der schriftlich fixierten Literatur Taiwans ist deutlich umfangreicher als der erste Teil der mündlichen Überlieferungen. Der Leser wird auf einen Ritt durch Texte aus dem 17., 18., 19., 20. und dem Anfang des 21. Jahrhunderts mitgenommen. Die meisten Texte sind belletristischer Natur, aus der früheren Zeit meist Gedichte, aus der Gegenwartsliteratur meist Prosasplitter, kurze Erzählungen. Zuweilen sind Essays dazwischen gestreut, z.B. Betrachtungen zur multiethnischen Literatur Taiwans, zur Industrialisierung, zur Rolle der christlichen Kirche oder über den Flughafen in Taipeh. Auf diese Weise erhält der Leser nicht nur einen Eindruck von abgehobenen literarischen Diskursen, sondern auch von Problemen aus der Lebenswirklichkeit. Besonders erkenntnisreich für den Leser, der noch nicht mit der taiwanischen Literatur vertraut ist, dürften die z.T. recht umfangreichen biographischen Anmerkungen zu den Autoren sein, die der Herausgeber jeweils unter die Übersetzung gestellt hat – insofern ist die Anthologie auch ein Kompendium und Lexikon der taiwanischen Literatur. Ein Beispiel dafür ist der erste Eintrag zur schriftlich überlieferten Literatur. Es handelt sich um das achtzeilige Gedicht Entwürfe aus der Bucht von Shen Kuangwen aus dem Jahr 1658. Der zweiseitige Kommentar des Übersetzers schildert die Lebensgeschichte des Dichters und ordnet sie kenntnisreich ins Zeitgeschehen ein. Auf diese Weise erhält der Leser ein vertieftes Bild der taiwanischen Kultur: Es werden nicht nur abstrakte Zusammenhänge geboten, sondern sehr persönliche Einblicke, die auf poetische Weise Geschichte vermitteln. Apropos Poesie: hier ist anzumerken, dass der Übersetzer selbst kein Dichter ist, sondern von der Wissenschaft (Sinologie und Germanistik) herkommt, und seine Lyrikübersetzungen zuweilen etwas sperrig oder gestelzt wirken und sich nicht immer klar auf die Vorlage zurückbeziehen lassen. Das Bemühen, um eine poetische Ausdrucksweise ist den deutschen Versionen anzumerken. Zu erwähnen ist an dieser Stelle, dass einige der Texte dieser Anthologie von sieben weiteren Übersetzerinnen und Übersetzern ins Deutsche übertragen wurden. Gewinnbringend für den Leser ist vor allem der weite Horizont und Gründlichkeit der Quellenkenntnis, mit dem Thilo Diefenbach die Textauswahl vorgenommen und die Anmerkungen zu den Texten zusammengestellt hat.

Viktor Kalinke
geb. in Jena, Studium der Psychologie und Mathematik in Dresden, Leipzig und Beijing, Kreativitäts-Preis der Hans-Sauer-Stiftung, Mitbegründer der Edition + Galerie Erata, Promotion, Professur, lebt in Leipzig.

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