Mittagessen mit Eberhard Spengler. Ein sehr sachliches Experiment

Die Serviette war aus bleichweißem, gestärkten Leinen. Eberhard Spengler lüftete sie vom Teller, entfaltete sie als hätte er Geburtstag und somit Überraschungen zu erwarten – die Erwartung war das, was es auszukosten galt, – und wurde urplötzlich von dem Drang befallen, sie sich um den Hals zu legen und dann langsam immer fester zusammenzuziehen. Unter schwerem Atmen widerstand er diesem Drang. Eberhard Spengler war nicht der Typ für kühle Experimente. Mit verspannter Nackenmuskulatur und krampfhaft geschlossenen Fäusten bemühte er sich um Haltung. Er wußte, die Serviette mußte aus seinem Blickfeld verschwinden, hier, jetzt, sofort. Das Radio spielte „Sunny“, einer dieser Schlager aus den Siebzigern, die man in mittleren Restaurants um die Mittagszeit (warum saß Eberhard nicht in der Mitte des Raumes?) so häufig zu hören bekommt. Für Eberhard Spengler klang dieser unsägliche Refrain wie „Schalli“. Schalli, das war, hach ja, wie konnte er das vergessen – sein Kollege Gustav Schaller, der jetzt Kundenberater bei einem renommierten Bankhaus war. Gustav Schaller hatte Glück gehabt. Haarscharf vor dem ersten, möglichen Griff nach der Zyankalikapsel hatte er den Job bekommen und die traurige Institution verlassen dürfen, in der er, Eberhard Spengler, immer noch knechtete.

Warten Sie nicht auf den Weihnachtsmann, Herr Spengler. Die Tageskarte liegt vor Ihnen. Heute ist Dienstag.

Henriette Spengler öffnete die Tür. Sie war erstaunt, Ihren Mann davor zu finden. Der sah aus, als hätte er schon ein paar Schnäpse intus. Henriette Spengler war eine erfahrene Frau. Sie kannte die Männer, sie kannte besonders ihren Mann und seine speziellen Bedürfnisse. Den Vormittag hatte Henriette damit zugebracht, sich mit einem Rasierapparat, der eigentlich für ihre Unterschenkel gedacht war, das Deckhaar systematisch kurz zu scheren. Das war Henriettes Rache an der Welt, der Welt, die sich ihr nur in Form von Eberhard Spengler präsentierte. Eine kleine, klägliche, ja alltägliche Welt, in der einzig und allein der totale – nein nicht Krieg – der totale Eberhard herrschte, eine Welt, in der schon bei Tagesanbruch der Glanz des absoluten und vollkommenen Eberhard schauerlich am Himmel erstrahlte. Jetzt war später Nachmittag und das Licht des Eberhard Spengler schon ein wenig blasser geworden.

Doch gerade diese Blässe machte Henriette unsicher. Sie deutete ihr vage an, daß etwas in ihrem Mann vorging, vorgegangen sein mußte -, daß da etwas nicht stimmte. „Gib mir meine Krawatte, Henriette“, sprach Eberhard Spengler, ohne seine Frau zu grüßen. Ich will sie dem Mädchen da unten am Fluß schenken, das, wie Du weißt, jeden morgen und jeden Abend dort steht und überlegt, ob sie nicht ins Wasser springen sollte. Sie wird nicht springen, das weiß ich. Die Krawatte wird sie auf andere Gedanken bringen. Meine Liebe, denkst Du denn, eine Wasserleiche sähe schöner aus als ein Mädchen mit einer Krawatte um den Hals? Wenn Du jetzt nickst, wenn Du jetzt sagst, doch, ja ich könnte es mir vorstellen, dann weiß ich, Du hast nie darüber nachgedacht.“

Ja, Eberhard Spengler, da liegt dein Problem. Du denkst über Dinge nach, die später weder passieren, noch andere interessieren, und weil ständig Dinge passieren, von denen du, Eberhard Spengler, nicht einmal den Hauch einer Ahnung hast, müßtest du das Denken eigentlich einstellen. . Siehst du, jetzt beugt sich Henriette vor, um dir einen Kuß zu geben. Gleich wird es Abendbrot geben. Die Dinge geschehen ganz von selbst und dein Denken war nur Sand im Getriebe. Tschüs, Eberhard!

crysantheme
Wer eine Crysantheme verblühen lässt oder ihr den Kopf vor ihrer Zeit abschneidet, der erntet zur Strafe nur noch grünes Friedhofskraut.

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