Nebel (Innenwelten I)

Sie fragt: „Fühlst du dich eigentlich“ – Pause – „…Glücklich?“

Keine beabsichtigte Pause, das höre ich. Dennoch starrt sie mich an. Sitzt mir gegenüber und starrt mich an, als hätte ich eine Lücke im Gesicht.

Nichts Verwunderliches. Wir sehen uns zum vierten Mal in unserem Leben, natürlich habe ich eine Lücke im Gesicht. Oder wahrscheinlich Nebel.

„Glücklich“, wiederhole ich.

Der ICE schneidet durch das Grau; ein frisch geschärftes Messer durch meine Erinnerungen. Und ich erinnere mich.

Vor genau drei Jahren saß ich hier. Zitternd vor Nervosität und unsicher, was mich jenseits des Nebels erwartete. Damals war es nicht sie, die mir gegenübersaß. Es war ein Vertrauter, ein Fremder. Einer, der des Nebels müde war. Für ihn verliefen die Zuggleisen zu geradlinig, der Zug zu leise.

Ständig unterfordert. Ständig kurz davor, aufzustehen und davonzulaufen. Vor dem Nebel.

Glücklich.

Noch immer umhüllt von Grau, erreicht der ICE eine Brücke. Für einen Augenblick nur brechen die Schwaden auf: Wattige Fragmente, die sich in Zeitlupe in das darunterliegende Tal ergießen. Flüsse, auf keiner Landkarte verzeichnet.

Das Sonnenlicht spiegelt sich in ihren erstaunt aufgerissenen Augen.

Er hätte nicht einmal hinausgeblickt.

Glücklich.

Wann werde ich je Worte für meine Gefühle finden?

Nie. Darum sind sie meine Gefühle.

Also schlürfe ich meinen Tee, stelle die Tasse beiseite, draußen die erneute, scheinbar ewige Umarmung des Graus.

Dann nicke ich ihr vorsichtig ein Ja zu.

Aber nein. Ich bin nicht glücklich.

Ich bin endlich ruhig, wie der Nebel.

Enya Laier

2 Kommentare

  1. Sehr schön. Glück als Provokation! Und das ganz ohne die westliche, vor zweihundertfünfzig Jahren jedem aufgeklärten Intellektuellen – damals ein Pleonasmus- vertraute Unterscheidung von Glückseligkeit und Glückswürdigkeit… Heute sind wir alle individuell, auf objektiv /anti-?//kapitalistische Weise. Individualität als antikollektivistische (Pseudo-)Individualität. Ob Großes oder kleines Fahrzeug, das Ziel ist immer Anders—irgendwie-irgendwo-irgendwann

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