Epitaph: Probleme um Gleis neun drei Viertel

1

Vielleicht bin ich zu alt für diesen ganzen Zauber.

Ich trat vor die geheimnisvolle Wand und stieß mir den Kopf. Dabei wusste jeder um die selbstverständliche Mechanik dieses Ortes. Aber es war der falsche Ort. Oder sollte es gar ein falsches Geheimnis sein?

Ich hatte am Anfang von Bahnsteig neun gestanden und die Leute beobachtet, fast eine halbe Stunde lang. Ich hatte keine Mühe gescheut, ihnen mit kühlem Kopf und ruhigem Blick auf die Spur zu kommen – vergeblich.

Ich stand an einer Bude am Anfang von Bahnsteig neun und beobachtete die Leute. Es war das auf einem Hauptbahnhof übliche Gedränge. Wege und Blicke kreuzten sich kurzzeitig, um schon im nächsten Moment einander ganz zu entschwinden. Ich stand da und war ein Teil davon.

Dann begannen mir die Blicke in der Seele zu jucken. Oder war es nicht vielmehr so, dass meine Blicke in den anderen Seelen zu jucken begannen? In den kurzen Momenten des Blickkontakts begann es zu jucken und zu zucken wie vor einem Gewitter. Man wurde auf mich aufmerksam. Ich war entdeckt.

In der Bahnhofskuppel erschien ein Taubenpärchen. Fast schien es, als hätten sie sich verirrt. Sie konnten unmöglich immer hier herumfliegen, schließlich waren sie keine Menschen. Mein Blick glitt unwillkürlich nach oben. Ich studierte die Topographie des Luftraums von unten. In der kuppelförmigen Dachkonstruktion ragten allerorten ungemütliche Spießer hervor, als Taube hätte man sich unmöglich dort niederlassen wollen.

Vielleicht als Eule. Aber Eulen hatte ich hier nicht gesehen. Ein Problem war es mit den Tauben. Die flatterten dort oben herum, als litten sie unter Verdauungsstörungen.

Als der Blick wieder die Erde erreichte, war der Bahnsteig wie leergefegt. Wo eben noch hunderte von Leuten mit Koffern rastlos aneinander vorbei gelaufen waren, gähnte nun die Leere eines verlassenen Bahnsteigs. Es war zum Ausrasten! Wieder war ich ausgetrickst worden.

 

2

Wenn es mit Beobachtung und Nachahmung nicht gelang, wie wäre es dann mit den Mitteln der Weltgeschichte? Ein vulkanischer Gedanke bemächtigte sich meiner, ich begann mich zu fühlen wie Alfred Nobel in der Blüte seiner Jahre. Dort war also Bahnsteig neun, oder sagen wir lieber – der Bahnsteig, wo zwischen den Zeilen der Gleise etwas Unverhofftes erwartet werden durfte. Ja, zwischen Gleis neun und Gleis zehn wohnte die Verheißung.

Ich stand am Anfang des Bahnsteigs, über mir ein hemmungslos flirtendes Taubenpärchen mit Verdauungsstörungen, unter mir die Erdkugel, wie sie einst schwebend auf dem Schreibtisch eines Giganten vergangener Jahrhunderte rotiert haben mochte, nur größer. Ich hatte die Hände tief in den Hosentaschen vergraben und fingerte an etwas Festem herum. Jetzt hatte ich es in der Hand. Wenn ich jetzt die richtige Bewegung ausführte, es wäre soweit. Zwischen den Fingerkuppen hatte sich eine ganze Salzwüste abgesetzt, es rieselte ununterbrochen. Ich bekam es mit der Angst zu tun. Es war nur eine Frage der Zeit, bis es sich bis ins Innerste durchgerieselt hätte.

Da verschlug es mir den Atem. Ich wollte tief Luft holen, doch es gelang nicht. Ich versuchte vorsichtig zu röcheln, so wie man in Hollywood das Nahen des retardierenden Moments einzuröcheln pflegt – allein: es wollte mir nicht gelingen. Obwohl ich genau wusste, dass ich mich auf dem Hauptbahnhof befand, am Anfang von Bahnsteig neun, der zwischen den Zeilen der Gleise ein Geheimnis birgt, sah ich vor lauter verhindertem Röcheln keinen Bahnhof mehr. Vielmehr stand ich allein in der Einöde, um mich ein weites weites Feld, und ich spürte es unaufhörlich rieseln. Unwillkürlich hielt ich mir die Nase zu.

Kraba vel Jop
Inhaber einer E-mailadresse, juristische Person. Owner of Agency for Literary Promotion (alp), in den 80er Jahren zufällig Zeuge einer Festnahme im Frankfurter Stadtteil Bornheim, seitdem Mitarbeit bei Literaturprojekten (Sklaven/Sklavenaufstand, lose blätter, Zündblättchen u.ä.) ohne kommerzielles Interesse.

3 Kommentare

  1. Drei Viertel, wer in seinem 41. Jahr die Wand erhellt, vor der er sie mit 16 stand, die Kinoleinwand, drei Viertel, neun, nein, verdeckt, ein schwarzer Störfaktor, der Fakt davor, Zauber, ist er sie zu alt? Zu alt, wofür, es beginnt auf dem selben Bahngleis, zwischen neun und zehn, der verschlagene Atem, von Innen verkehrt…

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