Wer den täglich erscheinenden Lagebericht des Robert-Koch-Instituts liest und auf der ersten Seite, genauer: in der zusammenfassenden Übersicht zu Beginn der ersten Seite, kleben bleibt, der kann angesichts der wachsenden („dynamischen“) Zahlen von Infizierten, Intensivpatienten und Verstorbenen im Zusammenhang mit Covid-19 nur in Besorgnis geraten. Diese Zahlen werden täglich im Halbstundentakt berichtet, als gäbe es keine anderen Probleme auf unserem Planeten. Wer dem durch häufige Wiederholung abstumpfenden Zahlenjournalismus noch Aufmerksamkeit schenkt, kann nur resignieren oder in helle Panik geraten. Vermutlich gibt es zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Studie zu den sozial-emotionalen Beeinträchtigungen, die von der Berichterstattung in Zusammenhang mit Corona hervorgerufen werden. Tatsächlich wiegen die kulturellen und wirtschaftlichen Folgen, die von der phantasielosen Fortsetzung des „Lockdown“ ausgehen, schwerer als die psychologischen Kollateralschäden. Er geht auf Kosten der Kinder sowie überhaupt fast aller Menschen, die jünger als 60 Jahre sind, erhöht das Armutsrisiko und spaltet die Gesellschaft.
Zu befürchten ist, daß sich nicht nur die Mehrzahl der unkritisch gewordenen Journalist*innen, sondern auch der entscheidenden Politiker*innen, vor allem auf Landesebene, von den Zahlenspielen auf Seite eins des RKI-Lageberichts beeindrucken läßt und schlicht aufhört weiterzulesen. Denn würden die Entscheidungsträger*innen und die Berichterstatter*innen den Lagebericht bis Seite acht studieren, genauer: den Abschnitt „DIVI-Intensivregister“, dann würden sie ein anderes Lagebild gewinnen. Das Register wird seit April 2020 vom RKI gemeinsam mit der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) geführt und ist auf www.intensivregister.de für jede Leser*in zugänglich. Es dokumentiert die in Deutschland vorgehaltene Kapazität an ITS-Plätzen und gibt Ärzt*innen Einblick, wo freie Kapazitäten zu finden sind.
Der Übersichtlichkeit halber beschränke ich mich in der folgenden Darstellung auf einen wohldefinierten Stichtag pro Monat, genauer: auf jeweils den letzten Mittwoch des Monats bzw. den ersten Mittwoch des Folgemonats, wenn er näher am Ende des Vormonats liegt. (Der Mittwoch wurde gewählt, weil der Lagebericht an diesem Tag die validesten Daten und darüber hinaus die Ergebnisse der Laborumfrage enthält.) Anfangs haben sich noch nicht alle Kliniken am DIVI-Verbund beteiligt, daher können die Angaben vom März nicht interpretiert werden. Trägt man die Angaben zur Auslastung der deutschen Intensivmedizin für das Jahr 2020 auf diese Weise zusammen, ergibt sich ein verblüffendes Bild:
Abbildung 1: ITS-Kapazität, Auslastung und Anteil der Covid-Patienten in Deutschland (Stichtag: letzter Mittwoch des Monats bzw. erster Mittwoch des Folgemonats, Quellen: RKI-Lageberichte, DIVI-Register)
Die gestrichelte schwarze Linie stellt die Zahl der zur Verfügung stehenden ITS-Plätze in Deutschland dar. Während des ersten Lockdown im Frühjahr wurden zusätzliche Kapazitäten geschaffen. Im Juli/August, als die Positivquote dramatisch gesunken war, wurde begonnen, die Zahl der ITS-Betten zu reduzieren. Erstaunlicherweise hält der Rückbau der ITS-Kapazitäten bis zum Jahresende an und wurde über den Jahreswechsel 2020/21 nur auf vergleichweise niedrigem Niveau stabilisiert, obwohl die Positivquote von Oktober bis Dezember beträchtlich anstieg und mit dem „dynamischen Infektionsgeschehen“ der zweite Lockdown im November 2020 sowie dessen Verlängerung bis Ende Januar 2021 „begründet“ wurde. Welche Politiker*in hat den Rückbau der ITS-Kapazitäten in Deutschland der Bevölkerung jemals erklärt? Welchen Motiven folgt er? Könnte nicht im Gegenteil ein Ausbau der Intensivmedizin – wie im Frühjahr 2020 – einem befürchteten Kollaps des Gesundheitssystems vorbeugen? Vermutlich sind diese Fragen naiv gestellt. Es geht ja nicht um die Zahl der Intensivbetten, an denen gibt es keinen Mangel, sondern um die Zahl des Personals, das für die Intensivmedizin ausgebildet ist: Intensivärzt*innen und Intensivpfleger*innen fehlen und sind nicht auf dem Bestellweg zu beschaffen…
Die langweilig anmutende, blaue Linie in Abbildung 1 offenbart eine deutlich tiefergehende Erkenntnis: Sie zeigt, daß die Gesamtauslastung der deutschen Intensivmedizin von April an geradezu konstant ist. Die Tragweite dieses Befundes muß man erst einmal verdauen! Ich hätte mit einer jahreszeitlichen Schwankung gerechnet, etwa einer höheren Auslastung im Herbst und Winter – ein konstanter Verlauf ist überraschend. Er bedeutet zum einen in der Konsequenz, daß der Anteil der mit Covid in Zusammenhang gebrachten Patienten keinerlei Einfluß auf die Gesamtbelegung der ITS hatte. Weder hat der Rückgang der Corona-Positivquote im Sommer zur Entlastung der ITS beigetragen, noch hat der „dynamische“ Anstieg der Infiziertenzahlen, der im November und Dezember 2020 sowie Januar 2021 berichtet wurde, zu einer höheren Auslastung der Intensivstationen insgesamt geführt. Daß die Auslastung der ITS seit Beginn der Erhebungen im April 2020 in keinem Zusammenhang mit Covid steht, weder positiv noch negativ, ist die bemerkenswerteste Erkenntnis der aufmerksamen Lektüre des RKI-Lageberichts. Sie bedeutet zum anderen, daß auch sämtliche nichtpharmakologischen Maßnahmen der Pandemiebekämpfung, die seit April ergriffen wurden, keinerlei Einfluß auf die ITS-Auslastung hatten: Weder die schrittweise Aufhebung des ersten Lockdown im Mai/Juni, teilweise Schulöffnungen, Kohortenunterricht, Schulschließungen und die Schließung der Kultureinrichtungen im Dezember noch die Verhängung des zweiten Lockdown – weder eine entlastende noch eine überlastende Inanspruchnahme der Intensivmedizin im Ganzen ist erkennbar.
Die Erhöhung des Anteils der Covid-Patienten auf den Intensivstationen im Herbst 2020 ist offenbar auf eine Zusatzdiagnose mit Covid bei Patienten, die ohnehin intensivpflichtig sind, zurückzuführen. Vorausgesetzt, daß Intensiveinweisungen nicht wählbar sind, „elektiv“ wie es so schön im medizinischen Jargon heißt. Oder wurde bereits anderen Patienten zugunsten von Covid-Erkrankten die Intensivbehandlung verwehrt? Diese Folgerung wird durch die hinlänglich bekannten Befunde von Klaus Püschel bestätigt, der als erster im Frühjahr 2020 begonnen hatte, sogenannte „Corona-Tote“ zu obduzieren, und durchweg eine Reihe tödlicher Vorerkrankungen bei den Verstorbenen neben dem Leiden an Covid feststellte.
Auf der ersten Seite des RKI-Lageberichts wird die Zahl der intensivpflichtigen Corona-Infizierten als bezugslos herausgegriffene Zahl präsentiert, so daß ihr Kontext im Rahmen der gesundheitspolitischen Kennzahlen der Intensivmedizin aus dem Blick gerät. Es entsteht der Eindruck einer rasanten Steigerung der ITS-Auslastung durch Covid-Patienten. In Wirklichkeit handelt es sich um Patienten, die auch an Covid leiden, darüber hinaus jedoch in der Regel weitere intensivpflichtige Erkrankungen aufweisen. Die Art der selektiven Berichterstattung ist geeignet, Furcht und Panik zu erregen.
Tatsächlich beängstigend ist dagegen die anhaltende Verknappung der ITS-Kapazität – mitten in einer Pandemie ein Unding für eine verantwortungsbewußte Regierung! Von März an reichte die in Deutschland insgesamt vorgehaltene Reserve an freier ITS-Kapazität für die Zahl der mit Covid diagnostizierten Patienten aus. Dies bedeutet, daß gelegentliche lokale Engpässe vom DIVI-Verbund aufgefangen werden können. So wird es auch in den sogenannten „Hotspot“-Regionen Sachsens seit Herbst 2020 praktiziert. Die Verknappung der ITS-Kapazitäten von Juli bis Ende Dezember um 6500 Plätze schmälert die Reserve zusehends – es ist bei der hier skizzierten Lage nicht nachvollziehbar, warum die Regierung einen Lockdown nach dem anderen verhängt, zugleich aber dem Rückbau in der Intensivmedizin nicht entgegenwirkt.
Aufwand und Nutzen sind aus den Fugen geraten. Die mathematische Spielerei mit bezugslosen Zahlen, die auch von beraterisch tätigen Wissenschaftler*innen an einigen Max-Planck- und Helmholtz-Instituten öffentlichkeitswirksam betrieben wird, hat Hochkonjunktur. Vergessen wir nicht, daß ein Modell nichts taugt, wenn ihm die empirische Basis fehlt.
Drei Zeitreihen, ein Problem:
Es gibt in Deutschland nicht genug ausgebildete Pflegekräfte.
These: Hier liegt der entscheidende Engpass…
„Der hat seinen Fahrer dabei…“
„Warum liegen manche Leute mit ihrer Analyse immer so knapp daneben?“
Stoppt die Diktatur der Zahlen!
Nieder mit den Metaphern! Tod der frei flottierenden: Willkürherrschaft! Von bloßen Worten…
Da haben wir es nun Schwarz auf Weiß: der Bundesrechnungshof ist auf die Lücke gestoßen, die jedem denkfähigen Menschen (Pleonasmus! Menschen können doch denken!) ein Rätsel aufgeben und begründeten Zweifel säen sollte: Im Jahr 2020 hat die Regierung 686 Mio Euro (sic!, wir haben’s ja..) in die Aufstockung der ITS-Betten in den deutschen Krankenhäusern investiert und wir wissen von höchster Stelle, dass die Vermeidung der Überlastung das Generalargument für den Lockdown war, gut investiertes Geld, möchte man meinen, wenn es dazu geführt hätte, den Lockdown zu vermeiden. Und wie bei Masken, Tests und Impfungen hat es die Staatsverwaltung gut gemeint mit den Anbietern: 50’000 Euro pro Bett wurden bereitgestellt, 13’700 Betten hätten also dazu kommen müssen – und damit hätte sich doch viel Leid vermeiden lassen, möchte man meinen. Nur: der Bundesrechnungshof hat vergeblich nach den neuen Betten in den deutschen Krankenhäusern gesucht. Er fand, wie in diesem Beitrag beschrieben, eine abnehmende Bettenzahl!!! Gab es also in Wirklichkeit mehr freie Kapazitäten, als offiziell berichtet? Hätte Deutschland dank seiner Betteninflation auf den Lockdown locker verzichten können? Oder haben die Krankenhäuser die Betten zwar angeschafft und kurzzeitig angemeldet, um die ausgelobten Prämien zu kassieren, dann aber schnell wieder abgemeldet und beiseite geschoben, um die Mindestauslastung zu erreichen, die laut Krankenhausfinanzierungsgesetz (ein regelrechter Fehlanreiz!) für die kontinuierliche Förderung durch den Staat nicht zu verpassen? Wie dem auch sei, es riecht nach Trickserei in Milliardenhöhe – wäre das nicht einen Untersuchungsausschuss wert???