Coccolithophoriden

CoccolithophoridenIch drücke meinen Rücken in das weiße Bett. Unter mir die Matratze, über mir weiße Bettdecken, zwei übereinander, darüber eine Wolldecke. Ich ruhe, ich träume, ich denke. Ich halte die Augen geschlossen. Hinter meinen Lidern wandern Gedanken hin und her. Sie hinterlassen Spuren, Abdrücke. Feiner Kalkstaub rieselt herab. Herab an meinen Meeresgrund sinkt er und lagert sich dort ab. Schicht für Schicht entsteht ein ganzes Gebirge unter Wasser. Tiefseefische kommen angeschwommen, beleuchten es mit bunten Lampen und staunen. Irgendwann ist mein Gedankengebirge so hoch, dass es über den Meeresspiegel hinausragt und dort von der Sonne beschienen wird. Dann sieht es aus wie die Kreidefelsen von Rügen.Im Meer gibt es winzige Algenkrümel, die Licht sammeln, Sauerstoff produzieren und Kleinkrebsen als Nahrung dienen. Nach ihrem Ableben sinken ihre kalkigen Schalen an den Meeresboden und wachsen dort zu Gebirgen heran. In Rügen zum Beispiel ragt ein solch weißes Kalkgebirge hoch über das Meer hinaus. Die Algenkrümel mit Kalkschalen heißen Coccolithophoriden. Das heißt übersetzt: „Stein tragende Samenkörner“. Millionen können in einem Liter Wasser schwimmen. Täglich sinken Myriaden abgelebter Coccolithophoriden an den Meeresboden. Auf Satellitenbildern kann man ganze Coccolithophoriden-Teppiche im Meer leuchten sehen. Ihre Kalkpanzer reflektieren die Sonne. Unter dem Mikroskop kann man ihre Schönheit bewundern: Die Kalkschalen-Formationen sehen wie bezaubernde Blütengebilde aus.Gestatten Sie, wollen Sie einmal meine Gedanken sehen? Sie sehen aus wie Coccolithophoriden. Hier, unter dem Mikroskop, schauen Sie! Es gibt zwei Zustandsformen, die ineinander übergehen. Sie heißen Holo- und Heterococcolithophoriden. Unglaublich, wie schön das aussieht, wenn sich eine Heterococcolithophoride aus einer Holococcolithophoride schält! Einem Wissenschaftler gelang es, diesen Moment unter dem Mikroskop zu fotografieren. In einem Magazin habe ich das preisgekrönte Foto gesehen.Ich liege im Bett, unablässig rieselt der weiße Coccolithophoridenstaub meiner Gedanken an meinen Grund. Ich kratze an meinem Unterwasser-Gebirge, mit den Fingernägeln, der Zunge, den Zehen, während ich auf dem Rücken liege und der Wind auf der Dachterrasse an allem rüttelt und alles durcheinander bringt, was er zu fassen bekommt. Er fährt unter die Armlehne des Plastikliegestuhls, hebt ihn hoch, wirbelt ihn herum, schleppt und stößt ihn über die Terrasse. Er klappert mit meiner Muschelsammlung. Ich habe sie in der ersten Woche hier zusammengetragen und auf einer ovalen Marmorplatte angeordnet. Manchen Muscheln habe ich Namen gegeben: „Sonnenaufgang“, „Aladin“, „Huckepack“, „Petit Blanc“, „Stella“, „Dicker Jakob“. Jeden Tag habe ich die Neuankömmlinge fotografiert. Mein Muschelgedächtnis. Muschellieder, Muschelgesänge, Muschelgeflüster, Muschelgespräche, denke ich. „Kreatives Muschelcoctail“, schreibt eine Freundin.Von meinem Bett bis zur Dachterrasse ist es nur ein Schritt.Wenn die Sonne aufgeht, ergießt sich das Licht über den Himmel, die Terrasse, das menschenentleerte, weiße Dorf aus Coccolithophoridenstaub. Die Gehsteige sind aus weißen Steinchen zusammengesetzt wie Gedankenmosaike. Erinnerungen an die Zeit, als es hier noch Menschen gab. Lichtsammler, Wahrheitssucher, Erkenntnisforscher, denke ich.Das Licht schwebt wie ein Teppich über dem Dorf, den Häusern, Gehwegsteinchen, der Dachterrasse und mir. Es hüllt uns alle ein, es sinkt aufs Meer, verwebt sich in Gold- und Silberplatten mit der Meeresoberfläche, fällt als Funken in die grünen Haare der langbeinigen Palmen (sie stehen auf einem Bein wie Flamingos) oder sinkt als Goldgelb in die Augen der Katzen, die mit dem Wind durchs verlassene Dorf streichen.Das Dorf ist weiß, die Augen der Katzen sind goldgelb. Der Himmel ist blau, tagblau, nachtblau, weiß, schwarz, gelb, dottergelb, schwefelgelb, goldgelb, rosa, orange, violett, purpurn. Die Wolken sind grau, weiß, schwarz; von der Sonne angestrahlt tragen sie die Farben des Himmels. Das Meer ist blau, grün, schwarz; es trägt weiße Schaumkronen. Der Strand ist ockerfarben, heller oder dunkler, gelber oder röter, je nachdem, wie viel Feuchtigkeit enthalten ist. Er ist von Dünen oder Felsen begrenzt. Hinter ihm beginnen das Land und das Gebirge.Am Strand liegen vom Meer geformte Muscheln und Steine, Treibholz, Teile von Fischerutensilien, Netze, Korken, Plastik. Möwen schweben über dem Strand und dem Meer. Sie schreien, fliegen, suchen Nahrung, sammeln sich an Fischerbooten, sitzen auf Klippen, fliegen auf.Unter ihnen leuchten Coccolithophoridengebirge.

evawal
geb. 1966 in Hamburg, Ausstellungen, Lesungen und Konzerte, Klang- und Rauminstallationen, Video, Film, Performances. Lyrik, Prosa und andere Abenteuer. www.evawal.blogspot.com

Ein Kommentar

  1. Gesatten Sie mir die karnevalistisch geschuldete Anmerkung: Die Angebote der VHS sind lächerlich im Vergleich zu den Kurzvorlesungen hier im Blog. Neben umfassende Einblicke in die Griechische Mythologie werden auch Grundkenntnisse der Erdkunde vermittelt…
    Nun aber Spaß beiseite: Die Ostsee ist mir wohl vertraut. Ich find mich wieder und geborgen in Ihren Worten, liebe evawal. Ein Gruß aus dem hohen Norden in die unendlichen Weiten des Blog-Alls!

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