Kammer-Bühl

An einem leicht bewölkten, nicht allzu heißen Augusttag des Jahres 1822 trafen sich Jöns Jakob Berzelius, ein Chemiker aus Schweden, der gerade in Marienbad zur Kur weilte, Graf von Sternberg, Johann Baptist Emanuel Pohl, ein Botaniker, Christoph Nepomuk Drostig, Mineraloge und Goethes Assistent, hm, nein, damals hieß es noch Diener, sowie schließlich, nicht zu vergessen, der Geheime Bergwerksrat höchstselbst zu einer Wanderung auf den Kammerbühl. Der Kammerbühl ist nicht irgendein Berg. Zwar klein, so daß man in ein paar Minuten von seinem Fuße aus den Gipfel erreicht, scheint er doch ein Vulkan zu sein und verheißt für Liebhaber der ernsthaften Naturkunde Überraschungen und Entdecker-Freuden, über die es sich vortrefflich streiten läßt. Siebenmal schon hatte Goethe die 30 Höhenmeter erklommen, vier Aufsätze hatte er über den Berg verfaßt: zuerst 1808 Der Kammerberg bei Eger und zuletzt 1822 ganz frisch Kammer-Bühl. War der Kammerbühl nun vulkanisch, also plutonischen Ursprungs, oder ist er wie andere Berge eine Auf­schichtung von Sedimenten, also dem Wasser entstiegen, ein Sprößling Neptuns? Goethe wurde nicht schlau aus dem Berglein, klopfte mit seinem Häm­mer­chen hier und da, sammelte Proben von Basalt und Schlacke. Und was hatte es mit dem Basalt überhaupt auf sich? Sah nicht der große Professor Werner, Vater aller modernen Geo­gnosten, im Basalt ein wässriges Geschöpf? Lagert er nicht gerne auf Sediment­ge­stein?

Pohl nickte und stimmte ein: „Richtig, unser verehrter Meister, Carl von Linné, der Unschätzbareres für die Ordnung der Pflanzen und der Natur geleistet hat, erkennt im Sediment ein Übrigbleibsel des Urozeans. Vor unendlichen Zeiten hat er sich langsam zurückgezogen, seine Wellen furchten und ackerten den Fels. Den Basalt hat er sicher als letztes Element auf die Sedimentschichten geworfen.“

Berzelius wackelte skeptisch mit dem Kopf. „Mein lieber Pohl“, sprach er, während er sich anschickte, sich zu dem zierlichen Moos hinunterzubeugen, das vor seinen Füßen wucherte, „als Chemiker möchte ich schon behaupten, daß Basalt eine kristalline Struktur hat, die mich an Lavagestein erinnert. Gewiß ist er aus einer Glutkugel heraus entstanden.“

Drostig nickte eifrig. „Seht, Freunde“, sprach er jauchzend, „welch herrlicher Quarz.“ In diesem Augenblick beugte er sich flink und hob einen kleinen Granitstein auf, der am Wegesrand lag.

„Granit, Granit“, rief Bergwerksgeheimrat Goethe hocherfreut, „du ältester aller Steine auf dieser Erde. Am liebsten möchte ich sagen: Im Anfang war … Granit. Geboren auf dem tiefsten Grunde des Urozeans, stapelst und formst du die höchsten Berge, die wir kennen: den Mont Blanc, den Gotthard und selbst den Brocken.“

Entzückt drehte und wendete Goethe das Steinchen, in dem sich Einsprengsel von Feldspat und Glimmer befanden, die sogar in der leicht verhangenden Sonne fun­kel­ten.

Das Grüppchen wanderte weiter, hatte schon den halben Weg zum Gipfel zurück­gelegt, als sie auf einer Weggabelung einen Felsbrocken entdeckten, dessen Ober­fläche gerundet war, als hätte ein Riese oder Zyklop ihn als Bonbon gelutscht und ausgespuckt.

„Ein Findling!“, entfuhr es Goethe voller Überraschung. „Zum achten Mal besteige ich den Kammerbühl, doch dieser Stein ist meinem Blick bisher entgangen. Wie kommt er hierher? Ich habe eine Vermutung… Was meint ihr?“

Die Herren umringten den Stein, schoben ihre Hüte über die Stirn, so daß die Krempe den Nacken berührte und schwiegen ein paar Minuten, in denen sie über die Herkunft des rätselhaften Steins sinnierten.

„Also“, eröffnete Pohl mutig die Diskussion, „ich glaube, der Urozean hat ihn auf seinem Rückzug hier verloren. Das Wasser hat ihn so schön abgerundet, daß wir uns an ihm freuen.“

„Halt, mein Lieber“, erwiderte Drostig. „wie wäre es, wenn ein Vulkan ihn aus­gespuckt hat. Der Kammerbühl ist doch ein Vulkan, da bin ich sicher.“

Pohl schüttelte heftig den Kopf, das konnte er nicht glauben. Berzelius jedoch führte Drostigs Gedanken weiter: „Es könnte sogar sein, daß dieser runde Riesenstein aus dem Weltall herabgestürzt ist, ein Meteroit, so nennt man das.“

Pohl kam aus dem Kopfschütteln nicht heraus. Nein, das konnte er nicht glauben. „Das Wasser war’s. Es hat dem Stein die runde Form verpaßt. Wart ihr noch nie am Meer?“ Da nickte Berzelius, der Schwede.

„Natürlich“, erwiderte er, „natürlich war ich schon oft am Meer. Aber dort, lieber Freund, sind die runden Steine am Ufer viel kleiner. Das Salz hat sie zerfressen und das Wasser gerundet. Ich bleibe dabei, der Stein stammt aus dem Schlund eines Vulkans oder aus dem Weltall an sich.“

Graf von Sternberg hatte die ganze Zeit über noch nichts gesagt. „Oh ihr Neptunisten und Plutonisten“, stöhnte er, „könnt ihr nicht aufhören zu streiten? Ewig will einer von euch recht behalten!“ Damit zog er eine Flasche köstlich kühlen Biers aus seinem Rucksack, entkorkte sie und reichte sie den Streithähnen herum. „Trinkt erst einmal!“, munterte er sie auf.

Goethe schwieg und lächelte. Dann sprach er: „Ich habe eine Vermutung, ihr werdet’s nicht glauben: Das Gegenteil von vulkanischer Hitze ist’s, das diesen Stein geformt hat, denke ich. Die Kälte war’s. Es muß eine Epoche großer Kälte wenigstens über Europa hinweg gegangen sein, als der Kontinent noch über 1000 Fuß hoch mit Wasser bedeckt war. Die Kälte verwandelte es in Eis. Das Eis, das können wir in unsrer Theorie nicht entbehren: Es hat die Felsklippen umhergeschoben und um­her­geworfen, abgeschliffen und gerundet.“

Goethes Gesprächspartner blickten betreten zum Boden. Nein, das hätte keiner von ihnen gedacht. Einen Moment lang herrschte frostige Stimmung. Kann ein kühles Bier so inspirierend wirken? Goethe reichte die Flasche dem Grafen von Sternberg zurück. „Nun, laßt uns nicht verzagen“, wandte er versöhnlich ein, „gehen wir weiter.“

Während sie sich nun dem Gipfel des Kammerbühl näherten, stellte Drostig die entscheidende Frage: „Verehrtester Herr Bergwerksminister“ – damit war Goethe gemeint –, „wie steht es nun um den Kammerbühl? Ist er vulkanischen Ursprungs oder als Sediment aus dem Urozean hervorgewachsen?“

Sie waren nun oben angelangt und genossen die Aussicht. Trotz leichten Wolken­dunsts erblickten sie die Dächer von Eger, das heute Cheb heißt. „Zuerst dachte ich“, hob Goethe an und blickte dabei Pohl tief in die Augen, „der Kammerbühl sei ein Geschicht, ein Sedimentberg. Ich war wie mein Lehrer Werner Neptunist. Dann fand ich Granit und Quarz und hielt ihn für vulkanisch. Ein Plutonist jedoch bin ich deswegen nicht geworden.“ Goethe hielt inne, sein Blick schweifte blinzelnd zu Drostig und Berzelius hinüber. „Denn Lava habe ich hier hie gefunden, bei all meinen sieben Wanderungen und auch heute nicht.“

Da drückte Berzelius das Hämmerchen, das Goethe stets bei sich trug, in Drostigs Hand. Der hockte sich nieder, schabte das Moos beiseite und begann zu klopfen. Dann stieß er auf eine harte Spalte, haute ein Stück von ihr ab und entdeckte in der Bruchfläche ein Olivin. Das war der Beweis: Der Stein war Lava.

„Oh!“ stieß Drostig hervor und wie zur Bestätigung begann der Berg unter ihm zu grollen. „Oh, oh, oh!“ Von unten donnerte es gegen die steinerne Kruste. Aus der winzigen Ritze, die Drostig in den Fels gehämmert hatte, züngelten winzige Flammen.

„Nichts wie weg von hier!“, sprach Graf von Sternberg und die Herren beeilten sich vom Kammerbühl wieder runterzukommen. Kaum waren sie unten in Eger, das heute Cheb heißt, hatte sich der Berg auch schon wieder beruhigt.

‚Gott die Natur‘, dachte Goethe, ‚welch hohe und zartfühlende Macht, niemand darf ihr zu nahe treten, auch mein treuer Drostig nicht.‘

Tage später, als Berzelius in der Postkutsche nach Stralsund saß, notierte er in sein Tagebuch: „Goethe war entzückt über diesen Fund und das Naturerlebnis und besonders über die Art und Weise, auf welche man a priori dazu gekommen war.“

Viktor Kalinke
geb. in Jena, Studium der Psychologie und Mathematik in Dresden, Leipzig und Beijing, Kreativitäts-Preis der Hans-Sauer-Stiftung, Mitbegründer der Edition + Galerie Erata, Promotion, Professur, lebt in Leipzig.

9 Kommentare

  1. Wer einmal während eines Vulkanausbruchs am Kraterrand stand, die Flugbahn der Lava in den nachtschwarzen Himmel mit staunendem Auge verfolgte, der weiß, wie eine exponentielle Kurve aussieht. Parabel, Metapher: dem sachorientierten Leser eine Last, dabei entspringt der schöpferische Geist aus der Vermählung unterschiedlicher Bereiche. Der gemeinsame Nenner: Naturgewalten, die den Menschen doch recht hilflos scheinen lassen in seiner angemaßten Stellung als „Maß der der Dinge“…

  2. Man kann sagen, dass jeder, der über den Abgrund des Unbekannten balancieren muss, unter schwierigen Umständen sein bestes gibt.

    1. Die Kategorie „Reiseberichte“ gefällt mir sehr gut. Endlich mal etwas Sinnvolles abseits vom Mainstream. Abseits vom Mainstream ist auch folgender Ort:

      Lahmann-Sanatorium

      Bis zum Ersten Weltkrieg besuchten Gäste aus aller Welt den Kurort am Dresdner Nordrand, bevor der Kriegsausbruch vorerst ein abruptes Ende setzte. Zu den berühmten Kurpatienten gehörten neben wohlhabenden Kaufleuten und Militärs auch Mitglieder der Familie der Hohenzollern und der russischen Zarenfamilie, Könige und Fürsten aus Europa, Asien und Ägypten, aber auch Schauspieler, Sänger und Schriftsteller, unter ihnen Rainer Maria Rilke, Franz Kafka und Thomas Mann. Über 300 Angestellte sorgten sich um deren Wohl, nahmen medizinische Behandlungen vor und organisierten den Klinikbetrieb. 1907 stellte das Sanatorium mit Ernst von Düring erstmals einen Chefarzt ein. Ihm folgte 1911 der Mediziner Kraft. Leiter war von 1907 bis 1918 Carl Paira, der zuvor selbst als Kurgast zum Weißen Hirsch gekommen war.

  3. 1897 weilte Maximilian Oskar Bircher-Brenner zu einem Studienaufenthalt am Weißen Hirsch. Er gilt als „Erfinder“ des Müslis.

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