Der notorisch ängstliche Richter

Es war ein Richter, der eine notorische Angst vor Lügnern hatte. Wenn er einen Dieb traf, der sagte „Ich hab nichts gestohlen“, so überführte er ihn der Lüge und verurteilte ihn. Wenn er einen Betrüger traf, der sagte „Ich habe niemanden betrogen“, so überführte er ihn der Lüge und verurteilte ihn – und in diesem Fall hatte er recht. Wenn er einen Schläger traf, der sagte, „Ich habe nicht geschlagen“, so überführte er ihn der Lüge und verurteilte ihn. Wenn er einen Mörder traf, der sagte „Ich war es nicht, ich habe niemanden ermordet“, so überführte er ihn der Lüge und verurteilte ihn. Alle Beschuldigten wurden ins Gefängnis abgeführt. Der Richter sprach: „Nicht weil sie Böses getan haben, müssen sie ins Gefängnis, sondern weil sie lügen.“ Ein Aufsehen erregendes Spektakel war das: ein Gefängnis voller Lügner. Nun kamen Forscher, untersuchten die Gefangenen mit Lügendetektoren und stellten fest: „Tatsächlich: In diesem Gefängnis gibt eine überdurchschnittlich hohe Anzahl von Lügnern! Der Richter hat richtig geurteilt.“ Reporter reisten an, schrieben Artikel für die Zeitung­ und sendeten Nachrichten im Fernsehn über ein spektakuläres Anschwellen der Lügenquote im Gefängnis. Die Regierung setzte sich zusammen und bereitete ein Gesetz vor, das Lügen künftig unter Strafe stellte. Kaum war es verabschiedet, begann ein hektisches Bauen und Werkeln im Land, genauer gesagt: im halben Land. Von diesem Tag an nämlich, wurden Tausende neue Gefängnisse gebraucht. Wer hätte gedacht, daß es soviele Lügner gibt? Die halbe Nachbarschaft, die Hälfte der Arbeits­kollegen, die Hälfte der Polizisten, eigentlich alle Märchen- und Ge­schichtenerzähler in den Kindergärten, ja sogar die Hälfte der Politiker im Parlament – überall lauerten Lügner. Für all diese Leute mußte Platz geschaffen werden in den Gefängnissen. Und bevor es soweit war, durfte jeder, der einen Lügner überführte, Selbstjustiz üben und den Lügner mit einer Fußkette an den Küchenherd fesseln. So konnte sich der Lügner selbst noch das Essen kochen, bis er endlich eingesperrt werden konnte. Der ängstlich notorische Richter, der mit seinen Aufsehen erregenden Urteilen das Ganze ins Rollen gebracht hatte, lehnte sich zum ersten Mal in seinem Leben entspannt zurück, vergaß seine Angst und murmelte: „Bald werden keine Lügner mehr frei herumlaufen!“ Nur mit einem hatte niemand gerechnet: mit dem Gesetz der Großen Zahl. Nachdem die eine Hälfte der Menschheit glücklich als Lügner überführt worden war und die ehrliche Hälfte der Menschheit gerade aufatmen wollte, das Problem endgültig gelöst zu haben, da stellte sich heraus, daß es in der ehrlichen Hälfte der Menschheit neue Lügner gab, Lügner, die ihre Ehrlichkeit vorgetäuscht hatten, in Wirklichkeit waren sie Lügner eines neuen Typs. Rasch mußten neue Lügendetektoren erfunden und diese böswilligen Individuen überführt werden – es stellte sich heraus, daß genau die Hälfte der in der ersten Welle noch ehrlich wirkenden Menschen Lügner neuen Typs waren. Nun hatte die Regierung bereits aus der ersten Lügenwelle gelernt und war auf die zweite Welle vorbereitet: Die Gefängnistore brauchten nur kurz geöffnet werden und die Lügner neuen Typs konnten sogleich weggesperrt werden – welch ein Segen. Doch gefehlt: kaum war die Hälfte der Hälfte identifiziert und inhaftiert, breitete sich die Lügenkrankheit weiter aus: Neue Formen tauchten auf, diesmal waren es die Phantastologen, die sich einfach Tatsachen ausdachten und den verbleibenden ehrlichen Teil der Menschheit damit erschreckten. Schnell wurde gegen sie ein Lügenschutzgesetz verabschiedet und sie konnten abgeführt werden. Kaum war die Menschheit auch von dieser Hälfte der Hälfte der Hälfte erlöst, erschien eine neue Spielart des Lügens auf der Bühne: die Phraseologen, die einfach erzählten, was ihnen durch den Kopf ging, ohne sich um den Wahrheitsgehalt zu scheren. Nun wir wissen, genauer gesagt: wir ahnen, welche Erfolgsstrategie im Kampf, genauer gesagt: im Krieg gegen den Lügendämon angewandt wurde. Die Gefängnisse quollen vor lauter Lügnern über, die Zahl der freien Menschen aber halbierte und halbierte sich, bis nur noch einer übrig blieb: der notorisch ängstliche Richter. Vorsichtig, wie er war, ging er nun – zum ersten Mal in seinem Leben – in sich und stellte sich selbst inquisitorische Fragen: Konnte es sein, daß vielleicht eine Hälfte in ihm stets Lügen verbreitete, während die andere Hälfte in ihm beständig die Wahrheit suchte. Es war ein schauerliches Bild, das unser armer, notorisch ängstlicher Richter bot: Er rang mit sich, wand sich auf der einsamen Parkbank, auf der er sich niedergelassen hatte. Eine Hälfte in ihm wollte die andere Hälfte in ihm verurteilen, festnehmen und einsperren, aber unmöglich konnte er sich auf diese Weise selbst ins Gefängnis abführen – was würde dann aus seiner ehrlichen Hälfte werden? Es wäre ungerecht, wenn auch sie eine Strafe absitzen müßte! In seiner Verzweiflung kettete sich der notorisch ängstliche Richter an das Gefängnistor, so daß ein Fuß drinnen war und der andere draußen. Die anderen Insassen – immerhin die gesamte Menschheit bis auf einen – erbarmten sich seiner, kurz bevor er am Verhungern war. Indem der Richter das Tor halboffen stehen lassen mußte, um seine Mission zu erfüllen, nutzten sie die Gelegenheit, in die Freiheit zu schlüpfen. Dort kochten sie für den armen, notorisch ängstlichen Richter, buken Brot für ihn und brachten im Wasser. An den hohen Feiertagen besuchten sie ihn und steckten ihm, obwohl es verboten war, eine Flasche Wein zu, indem sie sagten: „Da ist nur Wasser drin.“ Auf diese Weise erfreute sich die Menschheit – bis auf einen, genauer gesagt: einen halben Menschen – an ihrer Freiheit und hatte wieder ihre alte, unlautere Lust am Lügen.

Viktor Kalinke
geb. in Jena, Studium der Psychologie und Mathematik in Dresden, Leipzig und Beijing, Kreativitäts-Preis der Hans-Sauer-Stiftung, Mitbegründer der Edition + Galerie Erata, Promotion, Professur, lebt in Leipzig.

5 Kommentare

  1. das ist der sogenannte naturzustand; die natur ist voller täuschungen: eine vorsichtsmaßnahme der konservativen struktur, um enttäuschungen vorzubeugen. Es geht, spinozistisch gesprochen, um die minimierung „schlechter ereignisse“ – „schlecht“ ist dabei im ethischen, nicht im moralischen sinne zu nehmen. Und jetzt könnte noch ein dritter satz formuliert werden – – der wäre dann inhaltlich, also potentiell „normativ“

  2. Nette Geschichte. Nach dem Lesen habe ich mich gefragt: Spielt das im Himmel oder auf der Erde? Nach einigem Grübeln kam ich zu der Antwort: also, wenn es auf der Erde spielte, dann eher auf einem Festland als auf einer Insel. Wenn aber doch auf einer Insel, dann nicht auf Kreta – denn: Alle Kreter lügen. (Deshalb bin ich ja von dort weggezogen…)

  3. Und diesem Selbst begegnet man hier ständig. Zum Beispiel beim Händewaschen. Wer sich wäscht, spaltet sich in jemanden, der wäscht und jemanden, der gewaschen wird

  4. Was für ein Jammertal, wo noch nichtmal zwischen einem Händedruck und einer Entschuldigung unterschieden wird [werden kann] {soll, … , darf!}

  5. Naturzustand ist (wie) ein Bild.
    Dagegen steht, was jeder EOS-Absolvent
    spätestens Ende Oktober seines 1. Jahres
    mitgeteilt bekam:

    Bewegung ist die Daseinsweise der Materie.

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