„Du wolltest mir etwas zu den Bildern erzählen.“ Clarissa, neben ihm, mit dem Schal aus roher Seide, lenkte ihn ab in seiner Konzentration. Mit Fragen: „Das rechte stammt aus dem achtzehnten, das daneben aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert. Wie soll ich das begründen?“ Während er vor seinem geistigen Auge alles auf Tapete brachte, seinen Film drehte, in dessen Zentrum nun ein obskurer Hintern thronte, traktierte sie ihn. In Gedanken feilte er an seiner Arbeit, blieb heute Clarissa manche Erklärung schuldig – wegen eines Hinterns, der ihn anfangs langweilte, was nicht ganz gefahrlos war. Clarissa brachte es immer noch nicht fertig, jenseits der ausgetretenen Pfade etwas zu entdecken, das sie als ungewöhnlich in die Diskussion einbringen konnte.
Der Hintern stand still und bewegte sich nicht. Der Mensch, dem er gehörte, war hoch aufgeschossen und sah, wie er jetzt feststellen musste, nicht nur etwas altmodisch gekleidet aus, sondern er schien sich geradezu auszuleben in dieser Pose der Vergangenheit, die durch seine Haltung, ja durch seinen ganzen Habitus, schon etwas Futuristisches bekam.
„Kennst du den?“ neigte er sich zu Clarissa herüber. Sie nickte. „Ich glaube, der gehört zur Akademie. Ist einer von Prof. Ziegenbarth.“ „Von Ziegenbarth? Zu dem kommen doch nur die Guten.“ „Ja, Eduard. Die Guten. Die ganz Guten.“ Ihr Schal aus Rohseide warf sich um den Hals und auf den schwarzen Glastisch, und er hatte, wie ihm eben erst auffiel, ein Muster im Jugendstil, fast schon obszön in seinen Windungen, wie die Zeichnungen von dem Beardsley.
Der Mensch, dem er gehörte, war hoch aufgeschossen, er trug zudem einen Zylinder, lang und schmal, was ihn noch viel größer machte, als er ohnehin schon war. Den habe ich gestern im Späti gesehen, also ich mir noch ein Brot kaufen wollte. Der ganze kleine Späti war voll, da lief gerade die Champions League, Liverpool gegen irgendwen. Ein Gruppe Männer stand um die Bierkästen herum und trank Sterni, der Flachbildfernseher hing an der Decke. Ich stöberte gerade im Hinterzimmer nach dem Brot, als der Spätibesitzer laut in die Runde fragte: „Wem gehört das Buch hier?“ Niemand antwortete ihm. „Ist eine Partitur. Wagner. Walküre.“ Jetzt meldete sich der Mann mit dem Zylinder.
Der Kommentar-Text ist voll inhaltlicher und verbaler Brillanz, nur der Wagner-Diskurs am Schluss nervt etwas in seiner Erwartbarkeit und ist mir demzufolge auch zu geringfügig auserzählt. Ich frage zurück: Warum das?
Sprachlich gut gestaltet sind die unterschiedlichen Realitäts- und Wahrnehmungsebenen, die hier ineinandergreifen. Ein hintergründiger Blick, spannend nachvollzogen.
Weil es so war! Es war wirklich so! Ich war in diesem Späti! Und da war der Mann mit dem Zylinder und da lief das Fußballspiel und da war die Partitur! Das ist alles so gewesen! Am 10. war das, am 10. April, hier um die Ecke!
Werfen Sie der Wirklichkeit vor, dass sie sich zu gering auserzählt?
Er ist ein derber Mensch, aber ich habe ihn gern.
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