Abstraktion des Gefühlslebens (1)

Er trug schon beim zweiten Treffen den altmodischen Hut. Es lag Schnee in der Luft, die Kurven liefen sich nicht gut in den glatten Schuhen, alles schien sich in Schleier zu werfen, und sie wollten den Weg nach Hause hinauszögern, um klarer im Kopf zu werden. An der Tür hatten sie dann einander ihre Zuneigung gestanden, trotz altmodischer Hüte und postmoderner Zickigkeit. „Vielleicht können wir gemeinsam auf die Bühne gehen.“

Clarisse löcherte Eduard viele Tage mit Fragen zu seinem neuen Freund, und er war, wie in einem Beichtstuhl, anfangs bereit, ihr alles zu erzählen. Er lud sie zu sich ein, sie entdeckte Spuren des neuen, des seltsamen Freundes, der zwar nicht bei Ziegenbarth, wie angenommen, studierte, aber in einer ähnlich renommierten Klasse angenommen worden war. Da lag eine Decke auf dem Sofa, die ihr sehr gefiel, kleine Zettel mit Schrift bedeckt, oft nur einzelne Worte, die keinen Zusammenhang ergaben, angerauchte Zigaretten, die einen gelblichen Teint hatten, und die sie selbst hier noch nicht gesehen hatte, wahrscheinlich eine Importware. Sie tauchte ein in die Details, die Eduard ihr erzählte und kam endlich, nach mehreren Besuchen, zu einer Schlussfolgerung. „Euch verbindet die Merkwürdigkeit. Die Verstricktheit in euch selbst und in eure Interessen, die sich bei äußerlicher Verschiedenheit jedoch sehr in ihrem Verfahren gleichen.“

Die Wohnung wirkte noch weißer, noch kühler. „Wie frisch gefallener Schnee“, witzelte Clarisse und kam dann für eine Weile nicht mehr zu Besuch. Eduard nahm sich Zeit, seinen Freund besser kennen zu lernen. Abends legte er statt Jazz-Platten Chansons von Debussy auf. Er dimmte das Licht in der Wohnung, besorgte auf dem Flohmarkt Jugendstillüster, Lampenschirme in unverwundbaren Farben. Er fragte in Geschäften nach altem Weinbrand, freundete sich mit Whiskey und Cognac an. Eigentlich hatte er fasten wollen, wenigstens bis Ostern. Er fand heraus, dass sein Freund ein Waisenkind war, Onkel und Tante steinreich. Das war eine glatte Lüge, und er wusste es, aber er genoss das Spiel mit solchen Lügen und Klischees, Dinge, die man immer am Beginn einer neuen Beziehung genießt, bevor sie aus dem Weg geräumt werden.

Eduard nahm alles, was mit der Jahrhundertwende zu tun hatte, zunehmend ernster, als hätte sich ein Virus in seine Zellen eingeklinkt und streute nun weitere Viren in die noch gesunden Zellen, formte sie um. Ein Parasit – aber vielleicht war es doch eine Symbiose, da Eduard gute Ergebnisse in seiner Arbeit am Lehrstuhl für Kunstgeschichte ablieferte.

Und überhaupt ist die Abstraktion des Gefühlslebens zweier Männer ein Cocktail, ein Gebräu, von dessen Genuss abzuraten ist. Man verliert sich in Behauptungen und Klischees wie ein Heizungsexperte, gemeinplatzig, heißluftig und ungerecht. Man lässt die schwarzen Wildlederstiefel vor der Wohnung stehen und klinkt die Tür zu. Die Türen in Eduards Wohnung waren offen, das Licht gedimmt aber nicht ausgeknipst, wer herein wollte, konnte herein, und so wurde die Liebesbeziehung zu einem Stück Geschichte.

crysantheme
Wer eine Crysantheme verblühen lässt oder ihr den Kopf vor ihrer Zeit abschneidet, der erntet zur Strafe nur noch grünes Friedhofskraut.

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