Das Gefühl von Gerechtigkeit hat etwas Merkwürdiges an sich.
Schon in früher Kindheit rieselt es in uns hinein, eine feine, staubige Saat, die jedes Wort der Mutter umgibt. Wir nehmen sie auf, schlucken sie herunter, und ehe wir uns versehen, bricht etwas auf, wächst und öffnet sich, blüht in sanften oder grellen Farben. In Anna sah es blauviolett aus wie die Bücher, die in den Wohnzimmerregalen standen.
In den ersten Klassen sammelte sie kleine, glitzernde Plastikteilchen in verschiedenen Formen. Fast jedes Kind besaß eine Schatzdose, die täglich mit in die Schule genommen wurde, um untereinander zu tauschen.
So herausfordernd Anna auch in Gegenwart ihres Bruders war, so zurückhaltend und schüchtern verhielt sie sich allein. Da ihre Freundinnen zudem alle älter oder jünger waren und die Buben aufgehört hatten mit ihr zu spielen, stand sie am ersten Schultag beinahe verloren im Klassenzimmer herum. Die Lehrerin wies ihr in der ersten Reihe einen Platz zu, und zwar neben einem Mädchen, das sich mit dem Namen Eva vorstellte. Schon nach wenigen Tagen zeigte Eva ihre Glitzerteilchen und schenkte Anna einige besonders schöne davon.
So begann auch sie zu sammeln. Ihre Mutter hatte ihr eine Holzdose gegeben. Immer wenn sie ihr Zimmer aufräumte, erhielt sie als Belohnung einen kleinen, goldenen Stern. Diese Sterne verblassten jedoch neben den Glanzstücken von Eva. Mit der Zeit gelang es Anna, ihre Sammlung weiter auszubauen, mehr Sterne gegen Bunteres, Interessanteres einzutauschen.
Eines Tages kam Jan, ein Junge aus Annas Klasse, wortlos auf sie zu und drückte ihr seine Dose in die Hand. Vielleicht hatte er die Glitzerteilchen schon als überholte Mode eingestuft. Möglicherweise war er damit zu seiner Mutter gegangen und sie hatte gesagt: „Schenk sie doch einem Mädchen“. Was auch immer sich für eine Geschichte hinter seiner Geste verbarg, auf einmal besaß Anna den größten Reichtum und Dinge, die sie aus Mangel an Ebenbürtigem wohl niemals hätte eintauschen können. Eigentlich ein Grund zur Glückseligkeit, jedenfalls für ein siebenjähriges Mädchen. Vielleicht war sie auch glücklich; ganz bestimmt war sie das. Doch da gab es noch etwas anderes in ihr, ein dumpfes Gefühl, das sie in ihrem Lächeln erstarren ließ: Diese Dose durfte sie nicht besitzen.
Anna sprach mit dem Jungen nicht darüber. Sie fragte ihn nicht, ob er sich sicher war, dass er diesen Schatz ausgerechnet ihr vermachen wollte und wie sie ihm dafür danken konnte. Stattdessen behielt sie die Dose in der Hand, wenn sie das Klassenzimmer verließ, und warf auf dem Flur einzelne Schmetterlinge oder Blumen auf den Boden. Dabei bemühte sich Anna, dass sie niemand bemerkte. Auf diese Weise, dachte sie, könnte sie den unrechtmäßig erworbenen Besitz wieder ausgleichen. Denn unrechtmäßig war er, so ihre Überzeugung: Nicht einmal eine Freundschaft hatte sie mit dem Jungen verbunden. Was gab ihr also das Recht, von ihm auserwählt zu werden?
Jedes Plastikstückchen, das unbemerkt herunterfiel, ließ sie aufatmen, war gleichzeitig ein Stein, der sich von ihrem Rücken löste. Alle diese Teile, die sie nun nicht mehr besaß, gaben ihr das Gefühl, wieder quitt zu sein.
Nicht immer verliefen solche Versuche unbemerkt. Manchmal war die Menschentraube nicht dicht genug, um ungesehen zu bleiben. Dann stieß eine Klassenkameradin Anna an der Schulter an: „Entschuldigung, du hast hier etwas verloren.“ Sie bückte sich, hob den Plastikschmetterling wieder auf, bedankte sich vielleicht sogar, wahrscheinlich sagte sie aber nur „oh“ oder „ups“ und versuchte, überrascht auszusehen. Die Schwere kehrte auf ihre Schultern zurück.
Eines Tages füllte Anna den Rest Glitzer, wie die Kinder es nannten, in ihre eigene Dose und begann, damit zu tauschen. Doch das Gefühl, kein Recht auf dieses Geschenk zu haben, blieb. Vielleicht sah man auf ihr für einen Augenblick eine Farbe aufblitzen, ein Wort, einen Ausdruck im Gesicht. Niemand weiß, wann die staubige Saat in Anna hineingefallen war, doch mit Sicherheit konnte man sagen, dass sie aufgebrochen war, wie wild angefangen hatte zu wachsen, so sehr, dass sie von innen an Annas Haut stieß.
Vor Wochen habe ich mein lang nicht beachtetes Bücherregal ausgeräumt: nun stapeln sich hier Brockhäuser von A bis Z nebst Weltatlas. Ich musste sie entstauben, den Goldschnitt feucht abwischen. Drei mal Drei in einer langen Reihe. Eine blauviolette Reihe. Angebote werden gern entgegengenommen. Ich habe daran keinen Bedarf mehr.
Den Goldschnitt feucht abwischen … die Horrorvorstellung eines jeden Buchbinders …