Poetischer Planet

Was hat sich Franz Kafka dabei gedacht? Hat er sich was gedacht, als er hämisch-abweisend von der „Kuh vom Kurfürstendamm“ sprach? Die Zurückgewiesene war die Dichterin Else Lasker-Schüler. Nicht nur Kafka wich der Frau gern aus.
Was hat sich Kerstin Decker dabei gedacht, die abfällige Bemerkung Kafkas in ihrem Buch „Mein Herz – Niemanden“ zu zitieren? Die Autorin offeriert das Buch nicht als Biographie. Es ist eine Biographie. Keine simple chronologische Darstellung eines Lebens. Sich über „Das Leben der Else Lasker-Schüler“ zu äußern, bedeutete der Autorin, darauf zu achten, was maßgeblich die Biographie bestimmte, um alle Achtsamkeit auf die bestimmenden Aspekte zu lenken. In der Beschäftigung mit der Anderen, hat sich die Autorin ihre Autonomie als Schreiberin bewahrt. Das Buch über und zu Else Lasker-Schüler ist die Biographie einer ausgewiesenen Biographin. Eigenes in der Entdeckung des Fremden nicht zu unterdrücken heißt, sich der Absicht und des Auftrags der biographischen Darstellung bewußt zu sein. Kerstin Decker schreibt: „Es ist die Pflicht der Biographen, Rätsel zu lösen“. Welches Leben ist ohne Rätsel? Das der Lasker-Schüler ist eines der Rätselhaftesten in der deutschen Literatur. Die Verfasserin hütet sich, Lösungen für ausgemachte Rätsel anzubieten. Alle Geheimnisse der Lebensgeschichte der Dichterin und ihre Dichtungen aufzulösen hieße, sie auf die Realität zu reduzieren, der sie sich entzogen hatte. In der Annäherung an die Dichterin bleibt Decker in der nötigen wie respektablem Distanz. Sie biedert sich der Dichterin nicht an. Sie artikuliert Zweifel, wenn immer Zweifel in ihr sind, ohne die unverhohlene Zuneigung in Zweifel zu ziehen.
Die in Wuppertal als Else Schüler Geborene war ein Wesen, das Manchem als ein Wesen aus einer anderen Welt erschien. Die Einen sahen sie als wandelnden Schmuckkasten, Andere als eine überkandidelte Orientalin. Sie wurde verdächtigt, eine stille Opiumnascherin zu sein. Nicht auf Äußerliches aus, kann Kerstin Decker über die auffällige Äußerlichkeit der Frau nicht hinwegsehen. „Sie ist eine, auf die man mit dem Finger zeigt“, stellt die Biographin fest. Das praktische Leben überforderte Else Lasker-Schüler. Sie war eine Forderin, die fortwährend überforderte. Im Leben wie in der Literatur. Als ließen sich Leben und Literatur trennen! Vor allem, wenn von Lasker-Schüler gesprochen wird, die nie langweilig leben konnte. Nun vom Leiden und den Leidenschaften im Sein und Schreiben reden? Das wäre zu einfach. Decker macht sich nichts einfach und nichts Einfaches. Wissen will sie, warum die Dichterin wie war. Sagen will sie, was ihr zum Warum und Wie zu sagen möglich ist. Sagen also, was nicht, was so noch nicht gesagt wurde!
Kerstin Decker nimmt wahr, welches die seelischen Wahrheiten der Dichterin waren, die die Wahrheiten ihrer Dichtung wurden. Wieder und Wieder wird Lyrisches zitiert, um Beziehung und Bindung des Literarischen zum Leben nicht nur anzudeuten. Das Authentisch-Lyrische gilt. Die Autorin muß nicht analysieren. „Diese Frau ist heimatfühlig“, ist lakonisch notiert. Die Bedeutung dieser Bemerkung begreifbar zu machen, ist eine Aufgabe von „Mein Herz – Niemanden“. Ihre Einsichten formuliert die Verfasserin formelhaft knapp, sobald sie die passenden biographischen Ereignisse aufruft oder aufgerufen hat.
„Heimatfühlig“ zu sein bedeutet, Wuppertal und dem Bergischen Land willig wie unwillig verbunden zu bleiben. In Berlin Charlottenburg, wo Lasker-Schüler ihr vitales Vagabundenleben Jahrzehnte lebte. In Jerusalem, wo die jüdische Emigrantin 1945 starb. Wo sich Lasker-Schüler, in des Wortes Sinne, durchs Leben schlug, sie war die Verletzte, die in ihrer Existenz gefährdete, die nie eine verbindlich Unverbindliche sein konnte. Im Verlangen, Selbst zu sein, war sie eine Spielerin, die keine Grenzen kannte. Alles war ihr das Möglich-Unmögliche oder Unmöglich-Mögliche. Gelebte Individualität verlangte ihren Preis. Else Lasker-Schüler zahlte, zahlte und zahlte. In ihren Lieben und Freundschaften. In ihrer Mutterschaft, die durch den Tod des 27jährigen Sohnes Paul tief verletzt wurde. Wenn, dann gehörte Paul das Herz der Lasker-Schüler. Keiner Konvention verbunden, allem Konventionellen widerstehend und widerstrebend, existierte die Dichterin in ihrem poetischen Planetensystem, in dem sie auf Entdeckungen aus war, um die phantastischsten Entdeckungen zu machen. Um sich lebenslang als ewig 14jähriger Knabe zu fühlen. Um als Tino, Prinz von Bagdad, als Jussuf, Prinz von Theben, durch die Tage zu ziehen. „Der Nur-Mann, die Nur-Frau wären keine Schöpfer. Das Schöpferische ist zweipolig“, ist einer der Schlüsselsätze zu Leben und Werk der Dichterin.
Substanzielle Sätze dieser Art sind Teil der Qualität des Buches, die nicht das Selbstverständliche ist. „Mein Herz – Niemanden“ ist keine bloße Fleißarbeit. Es ist die fleißige Arbeit der Autorin, die sich aufs Verstehen und Verständigen versteht. Das Prinzip der Collage, die geschickt Angeeignetes und Eigenes vereint, von Sigrid Damm seit Jahrzehnten praktiziert, ist auch das verbindliche Prinzip für die Lebensdarstellung der Lasker-Schüler. Beide Schriftstellerinnen, die aus Ost-Deutschland kommen, bringen der deutschsprachigen Literatur das Schreiben von Biographien neu bei. Das ist ein Ereignis, wenn Seele Seele erkennt wie in „Mein Herz – Niemanden“. Es ist ein frohes Aufatmen, wenn man durch das Buch ist. Es muß ein Aufatmen in Kerstin Decker gewesen sein, als der letzte Arbeitszettel ad acta gelegt wurde und der letzte Satz geschrieben. Welch eine Biographie! Welch eine Biographin!

Kerstin Decker: Mein Herz – Niemanden. Das Leben der Else Lasker-Schüler. Propyläen Verlag: Berlin 2009. 473 Seiten, Geb., 22,90 Euro

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