Schwerer Abschied

Lutz klebt den nächsten Karton zu. „In den Flur?“
Dort stapeln sich bereits fünf Kisten. Der Anblick gefällt ihm nicht. Damals hat er geholfen, die Bücherkisten in die Wohnung zu schleppen, dazu, sie nun wieder hinauszuschleppen, ist er nicht ohne weiteres bereit.
„Und wenn Sie in Hamburg blieben, Frau Doktor? Sich hier eine neue Stelle in einem anderen Krankenhaus suchen würden?“
Ach, Herr Lutz, wenn Sie wüssten!
Mit Doktor*innen ist es wie mit Lehrer*innen oder Buchhändler*innen oder Anwält*innen. Konkurrenz im Beruf ja, aber nach Feierabend kennt man sich. Nicht einmal befreundet muss man mit den Kolleg*innen sein, ob man will oder nicht – wie gescherzt wird – trifft man sie dennoch regelmäßig auf ganz bestimmten Tennisplätzen, in ganz bestimmten Fresstempeln oder beim Wochenendeinkauf Samstagmorgen auf dem Biowochenmarkt in Ottensen. Und tratscht. Und zweifellos will man ja auch, sonst würde man all diese heiligen Stätten nicht bepilgern. Und nicht tratschen.
Ich beispielsweise will nicht, halte mich da fern, frequentiere das Hallenbad in Altona und koche entweder zuhause oder esse Backfisch mit Kartoffelsalat in einem der Bistros auf der Großen Bergstraße. Samstagmorgens kaufe ich im türkischen Erden Market ein.
Aber es hat keinen Zweck, Lutz das alles darzulegen. Die entscheidende Information fehlt ihm. Genau diese Information würde unter der Hamburger Ärzt*innenschaft Samstags am Biowein-Stand die Runde machen. Unter dem Siegel der absoluten Verschwiegenheit, zwischen zwei Schlückchen Pinot Noir, untermalt von der selben Melodie, die man auch abspielt, wenn man sich Infos über einen sogenannten Kunstfehler zuträgt, der letzte Woche im Operationssaal glücklicherweise Dr. B. und nicht einem selbst unterlaufen ist. Nun habe man also gehört, diese Ärztin…
Um es abzukürzen: Ich würde in Hamburg keine neue Stelle finden. Ich muss hier verschwinden. Wo man mich als nächstes will, dort ziehe ich hin. Letzte Woche war ich in Neustadt, um mich persönlich vorzustellen, Frau von Schönberg hatte nicht zu viel versprochen, eine Einladung ihres Chefs kam prompt. Der Kittel des Mannes wies Spritzer undefinierbarer Herkunft auf, möglicherweise hatten gleich mehrere Patient*innen spucken müssen. Auf jeden Fall war etwas unschönes vorgefallen, der Chefarzt wirkte gallig. Seine Zeit reichte lediglich für ein Händeschütteln und -drücken, dann ein gehetzter Blick auf die Uhr, Verabschiedung, ich würde schnellstmöglich von ihm hören. Und schon eilte er davon, um wieder ans Werk zu gehen.
„Wissen Sie, in Hamburg wird es mir zu hektisch“, erzählte ich Lutz am darauf folgenden Tag. Der Streit mit meinem Vorgesetzten und die daraufhin vereinbarte Aufhebung meines Arbeitsvertrages in beidseitigem Einverständnis wären doch zwei Gründe, in etwas ruhigere Gefilde zu ziehen. Ich bekäme vermutlich eine Stelle in Neustadt, in der Provinz bräuchte man mich dringend.
Lutz ist betrübt. Obwohl ich nicht ein Mal mit ihm ausgegangen bin, wie ersehnt. Ebenso wenig habe ich in dem einen Jahr unserer Nachbarschaft die Einladung auf ein Glas Wein in seinem Wohnzimmer angenommen. Dabei hätten wir uns viel zu sagen, meint Lutz. „Wenn ich sehe, wie viele Bücher Sie besitzen, Frau Doktor, ist es geradezu ausgeschlossen, dass wir zwei uns nicht verstehen würden!“
Mag sein. Lutz, Ende 50, früh verrenteter Bibliothekar mit schlohweißen Locken und Nickelbrille, ist ein netter Kerl. Manchmal kann er sich dann doch nicht bezähmen und klingelt bei mir, beispielsweise, wenn er hört, dass ich Möbel rücke, Nägel in die Wand klopfe, meinen Abfluss frei pumpe. Ob ich Hilfe bräuchte, heißt es dann. Vielen Dank, ich schaffe es allein. Ich frage Lutz aber, wo er schon mal in der Tür steht, ob er auf eine Tasse Tee hereinkommen möchte; er möchte immer. Wir plaudern ein halbes Stündchen. Er erzählt von seiner Arbeit, damals in der Uni-Bibliothek, auch, dass seine über alles Geliebte vor drei Jahren auf und davon ging, und es schwer ist, als Frührentner eine neue Liebste zu finden. Warum er mir das erzählt, verstehe ich nicht. Vielleicht will er es einfach nur loswerden. Eine dreizehn Jahre jüngere Frau gewinnt man nicht dadurch, dass man ihr auf die Nase bindet, wie gering der eigene Marktwert ist, das müsste Lutz wissen. Dennoch, ich mag ihn, wollte es aber immer bei unseren kleinen Plaudereien 14tägig belassen.
Ich klebe den nächsten Umzugskarton zu.
Als habe er heute geradezu durch die Zimmerdecke hindurch sehen können, dass es bei mir etwas in größerem Rahmen zu tun gibt stand Lutz vorhin in Norweger Pullover und Jeans vor der Tür, sehr leger für seine Verhältnisse. Wenn er sonst klingelt trägt er Oberhemd und Jackett. Und dass er heute so lange hierbleiben und helfen kann macht ihn augenscheinlich einerseits selig, anderseits, in Anbetracht der aktuellen Lage, traurig.
„Was sagen Ihre Kolleg*innen zu dem Streit mit ihrem Vorgesetzten, Frau Doktor? Nimmt man Sie in Schutz?“
Die vage Vorahnung, dass ich eines Tages mit der Wahrheit an die Öffentlichkeit gehen könnte lässt die Hamburger Ärzt*innenschaft vermutlich zusammenhalten wie selten zuvor.
„Es hat sich alles geklärt!“, antworte ich knapp, aber freundlich. Wo ist mein schwarzer Filzstift? Ach, hier. Funktion und Krankheiten Innerer Organe schreibe ich auf die Deckel der beiden größten Bücherkisten, Verhaltenspsychologie auf den Deckel eines ebenfalls gewaltigen Kartons. Stationsarzt F. wäre mein Bekenntnis weitaus peinlicher als das Aufdecken von ein bisschen Kunkelei unter den Regent*innen von Blankenese. Kunkelei ist nur unter Habenichtsen verwerflich. Bei Doktor F. und dem Jurist*innenehepaar heißt Kunkelei Kooperation. Aber das weiß Lutz sicher selbst. Hat ja diese Kaste in seiner Uni-Bibliothek heranreifen sehen.
„Vielleicht gehe ich auch wieder aus Hamburg weg. Zurück an die Ostsee. Wenn ich eine Frau träfe, die dort mit mir leben wollte, wäre ich sofort bereit.“
Ich überlege kurz, ob das ein letzter tollkühner Versuch ist, beschließe dann, einfach darüber hinweg zu gehen. Werde lieber den nächsten Deckel beschriften. Traumata und Therapie. Auch eine große Kiste. Gegen jede Störung kann man allerhand unternehmen oder es zumindest versuchen. Ich lasse wieder alles hinter mir.
Lutz trägt vier weitere Kisten in den Flur, der ist damit voll gestellt. Die Wohnung ist weder groß noch modern. Der typische Altonaer Flair weht schon seit einer geraumen Weile hinein, nistet in allen Winkeln. Salzluft, Geschrei vom Fischmarkt. Und der uralte Parkettboden knarrt bei jedem Schritt. Wie ich das vermissen werde! Genauso wie die Visite bei meinen Kindern am Morgen und die nächtlichen Ausflüge nach St. Pauli. Das waren selige Momente, Retardtabletten gegen den Schrecken der immer wiederkehrenden Einbrüche.
Pharmakologie Drei dicke Wälzer besitze ich zum Thema. Ich werde mir neue Medizin beschaffen.
„Ich koche uns einen schönen Tee!“, schlage ich Lutz vor, der jetzt wieder im Wohnzimmer steht und seinen Blick an meine letzten, noch nicht verpackten Habseligkeiten heftet.
aus: Frau Dr. E. liebt die Abendsonne
kommt!

Ju3iane
Juliane Beer: geb. 1964 in Bonn, Autorin, Wirtschaftsübersetzerin, Kindheit und Jugend in Norddeutschland und Lon-don, 1986 nach Berlin gekommen und geblieben, nach viel Off-Theater um die Jahrtausendwende mit dem Schreiben begonnen. Zuletzt: Arbeit kann zu einem langsamen und schmerzhaften Tod führen, Roman, Berlin 2010 Nach viel Off-Theater fing ich um die Jahrtausendwende mit Prosa an. Daraus wurden bislang einige Romane und Beiträge in Anthologien und Magazinen.

Ein Kommentar

  1. #BesserwisserIn#
    Darf ich mal: „Und wenn Sie in Hamburg blieben, Frau Doktor“… -in?
    Warum wird hier das Majuskel-I so übertrieben dargestellt? Ist es etwa lächerlich? Schade. Denn da steht Frau doch garantiert drüber auch ohne beide Genera auszuschreiben oder das generische Maskulinum zu verwenden. Aus Kollegen und Kolleginnen werden Mitarbeitende, aus Lehrerinnen und Lehrer Lehrkräfte, aus Anwältinnen und Anwälte die Anwaltschaft. Was ist daran so lächerlich? Weil Frauen gesehen werden möchten? Lasst sie doch – es kostet nur einige Gedankensprünge und spart so allerlei Zierrat wie * oder I…
    So, und jetzt geh *ch zu Frau Onkel Doktor…me*n Majuskel kr*echt.

    PS: Erst gestern meldete t-online, der soziale Aufstieg durch Heirat wird immer schwieriger – Ärzte wollen weder Krankenschwester noch Kindermädchen. Das verringert die Aufstiegschancen der Frauen generell. Wir sollten drüber reden!

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