Waldläufer

„Ist Sommer hier, herrscht den Sehern nach tief im Süden ein kalter Schattenwald“, sprach Rudolf. Er hob seinen Kopf, weg vom Feuer, hin zum Mond. Von der anderen Seite der Erde verdeckt, entsprangen der Sonne kräftige Strahlen darauf zu.

„Woher weisst du das? Bist du denn so ein Seher?“, fragte Ludwig. Seine erfrischende Neugier brachte Rudolf sanft zum Lächeln. „Ein Seher, ich? Nein. Ein Hörender? Schon eher.“ Ludwig schaute ihn verdutzt an. „Sieh nach unten und denk nach oben, Ludwig –“ Rudolf legte ihm den Zeigefinger der linken Hand auf die Stirn und schloß mit seiner rechten vorsichtig die Augenlider, „ein Seher denkt im Kreis und bricht Zeiten, wie Jesus das Brot. Er braucht keine Augen dazu, keine Ohren, selbst Arme, Hände, Beine, Füße sind ihm unnütz, spürt er heilige Flammen im Geist lodern. Auch sein Mund muß sich nicht öffnen, um von der Gnade zu berichten, sie umgibt ihn ohne Bringeschuld. Und tut er es doch, dann, weil er mit der Wahrheit spielt, wie das Kind mit Reimen, der Vogel mit dem Lied, der Mönch mit der Glocke; weil er es liebt, uns armen Sündern in Rätseln das Mysterium des ewigen Lichtes durch die Nacht und ihre fernen Sterne zu lehren.“

„Hast du einmal einen Seher gekannt?“ Rudolf spürte, wie Ludwigs Augen rotierten. Er wußte: Ludwig jagte jetzt glühenden Punkten durch ferne Zeiten nach. „Einen? Viele! Jeder von uns Menschen ist beizeiten ein Seher. Der eine in der Kirche, wenn er der Engel gedenkt, da das Licht durch die bunten Fenster auf die Weihrauchschwaden fällt und tanzt. Der andere, wenn er das Brot mit dem heiligen Tau darin ißt. Oder wieder andere, wenn sie verzückt in Geißelung oder Unzucht Wonne finden.“  Ludwig hielt, kerzengrade dem Feuer zugewandt sitzend, noch immer die Augen geschlossen.

„Ein Hörender aber kennt die Schemen und verweilt darin nicht zu lang, er achtet auf ein Knacken, auf ein Zischen – ein Hörender denkt Zeichen zusammen, verknüpft die Welten des Geistes mit denen der Erde. Ein Hörender verliert sich nicht in Gedanken und genießt es doch sie zu verästeln, versteht zu lauschen, aber vergißt nicht Scheite nachzuwerfen, droht ihm das Feuer niederzubrennen“. Rudolf war vorsichtig aufgestanden und hatte die letzten Worte, so schien es Ludwig, ganz plötzlich mit anderer Stimme, voller Hall und aus allen Richtungen kommend ausgesprochen.

Erschreckt öffnete er mit einem Gefühl, als wäre eine unbestimmbar lange Zeit vergangen, die Augen und sah, wie die Funken langsam wieder höher flogen.
„Ein Hörender würde also anhand des Züngelns der Flammen erfahren, welches Wetter kommt – und könnte trotzdem noch das bunte Pfeifen des Tannenholzes bestaunen?“
Rudolf nickte anerkennend. „So ist es. Aber damit, als Höchstes das Hören zu lehren, begnügt das Leben sich nicht, es gibt noch einen dritten, sehr schwer zu erreichenden Zustand. Nur wenige haben es je verstanden Fühlende zu werden.“ Rudolfs Stimme hatte einen zittrigen Tonfall angenommen.

Ludwig wollte, aber konnte nicht mehr warten, es schoß aus ihm, heraus: „Bist du ein solcher?“ „Nein.“ Rudolfs Stimme wurde wieder fester, aber auch leiser. „Warum nicht?“ Ludwig spannte diese Worte abermals voller Wucht, das Gespräch rührte an so vielen versunkenen Ahnungen und Träumen, er brauchte diese Antworten, jetzt oder nie. „Woher weißt du, was ein Fühlender ist? Und wenn du es weißt, warum denkst du, du bist es nicht? – nicht mehr?!“
„Deine Fragen, Ludwig, zeigen mir, dass du ein guter Schüler bist. Du merkst, meine Stimmlage verrät Traurigkeit und du könntest denken, dies sei den Wandlungen eines Fühlenden geschuldet. Doch so einfach ist es nicht.“

Wieder hielt Rudolf inne und schluckte kurz. „Ein Fühlender sieht nicht nur die Schatten, die das Feuer umtanzen, vermag dabei nicht nur den Luchs das Lager in weiten  Kreisen  umschleichen zu hören, nein, der Fühlende schürt überhaupt erst die Flammen, um dem Luchs zuzulauschen. Der Fühlende handelt wissend und ungeworfen. Aus dem Herzen, klar, führt seine Hand uns Blinde ins Land des Segens. Der Fühlende ahnt nicht, er gibt willentlich jenes, um was die Welt ihn – ohne eigene Ahnung davon, es sich eigentlich zu wünschen – bittet.“
„Der Fühlende ist also ein Heiliger?“ „Ein Heiliger, ja. Und der Teufel zugleich.“

„Das verstehe ich nicht.“ „Der Fühlende gibt den Menschen und allen Wesen, was sie suchen. Er will sie nicht verändern, sein Weg ist der Weg der Liebe, des Verständnisses und der Einkehr. Er nimmt vermeintliche Schuld an, verwirft sie und verneint radikal die Idee der Sühne. Er fühlt so sehr mit, dass er sich auflöst, wie eine Eichel, die in der Erde aufgeht und mit der Zeit zu einem starken, schattenspendenden Baum heranwächst. Doch aus einer Eichel wird keine Espe – und stehen die Zeichen auf Sturm, kann ein Fühlender daran zerbrechen. Will daran zerbrechen… -“

„Ist das der Grund, warum du Abstand davon genommen hast, ein Fühlender zu bleiben, Rudolf? Ist die Last zu schwer, bist du sehr verhaftet in dem, was man Hoffen nennt? In Sehnsucht? — nach erfrischendem Schlaf?“

„So ist es wohl. Ein Fühlender kann auf Dauer kein Lebendiger sein – ein Toter nicht im Gezwitscher der Vögel erwachen. Schlaf gut, Ludwig, und träume süß.“
Als Ludwig, in seine Decke gehüllt, auf den Boden neben dem Feuer lag und erst langsam, dann immer schneller, seine Gedanken wie warmer, weicher Sand unter neckenden Füßen zu verwischen begannen, schien es ihm, als vernähme er von weither eine Melodie.  Bruder Jakob, Bruder Jakob, schläfst du noch? Schläfst du noch? Hörst du nicht die Glocken, hörst du nicht die Glocken? Ding, dang, dong. Ding, dang, dong.
Bevor er endgültig das Bewußtsein verlor, schoß es ihm pfeilschnell durch den Kopf: ein Fühlender, das ist – ob Teufel oder nicht – allem Seienden ein unvergeßlich gütiger Freund.

 

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Faron Bebt
schreibt Geschichten mit bunten Botschaften und einem hartem Kern. Immer etwas dogmatisch, aus der Zeit gefallen, verstörend verträumt - wie letzte, angemalte Großstadtbunker --Farbbeton.

Ein Kommentar

  1. Kleiner – besserwisserischer – Hinweis für alle SeherInnen: Kommaregeln beachten. Dies ist eine Tugend, die leider immer mehr unterschätzt wird. Gern genommenes Beispiel: Komm wir essen Opa…
    Falls nun Kritiker ihre Stimme erheben und mich „kleinlich“ schimpfen: Ich habe den Text aufmerksam gelesen, weil er mir gefiel! Ich tat es nicht, um zu belehren… Tät ich dies, so wäre es wohl vermessen.

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