Nicht Gekanntes, nicht Genanntes

Wer angefangen hat, weil er etwas mit ihr anfangen kann, bleibt bei Else Lasker-Schüler hängen. Netter formuliert: Sie/Er sind ihr treu. Ohnehin haben die Hüter der deutschen Literatur die Poetin im Parnaß bestens platziert. Allen Bedenken zum Trotz. Die gelten eher der Person als ihrer Poesie. Ihre Mitmenschen erschreckte die Bürgertochter durch unbürgerliche Eskapaden. Kafka nannte sie ein „Schreckgespenst“. Kafka eben! Besser kamen Bekannte, Freunde, Geliebte mit der wechselhaften Natur der Frau zurecht. Als da waren die Herren von Benn über Hille, Kraus und Kerr bis Zech. Einschließlich des Herwarth Walden, mit dem Lasker-Schüler (1869-1945) zeitweise Haus und Bett teilte. Die Genannten sitzen am Tisch der Essayistin in dem Band „Die kreisende Weltfabrik“.
Gesuchtes und Gefundenes ist versammelt, das eindeutig und korrekt als „Berliner Ansichten und Porträts“ genau umschrieben ist. Texte wurden ausgewählt, die, zumeist und zuerst, All-Tags-Skizzen voller Assoziationen sind. Was zu Personen und Stätten angedeutet ist, sind eher knappe Andeutungen statt schmückende Ausführungen. Alles ist Anregung fürs Denken, Nachdenken, Überdenken. Die Autorin hält die Leser nicht auf. Das Innehalten erwartet sie. Für´s kurzweilige Vergnügen steht nicht zur Verfügung, was von der Verfasserin kommt. Else Lasker-Schüler hat für die langsam Lesenden geschrieben.
Das weiß und respektiert Heidrun Loeper, die Herausgeberin der Ausgabe. Sie hat ein Nachwort verfaßt, das ebenfalls nicht für´s Nebenherlesen da ist. Das ist in jeder Hinsicht was Seltenes. Ein Nachwort in, zu einem Buch ist wahrlich eine Rarität geworden. Der Herausgeberin (und dem Verlag) muß man die Hand drücken. Mit der Art der Publikation wird so etwas für die nachwachsende Generation möglicher Lasker-Schüler – Leser getan.
Die Schriftstücke zu den berlinischen Szenen, zu den der Verfasserin nahen Künstlern, sind Stücke einer Entdeckerseele. Sie schaut in andere Menschenseelen, ohne sie zu sezieren. Selbst oft eine Verletzte, hat Lasker-Schüler Annäherung an Andere auch etwas mit dem Abstandhalten zu tun. So möchte sie den Ein- und Überblick nicht verringern, der Ein- und Übersicht mindern würde. Lasker-Schüler ermittelt für sich und ihre Leser, um Überraschendes, Unerwartetes zu erkennen. Da ist kein Platz für Wiederholungen. Schon gar nicht für´s wiederholen der Wiederholungen. Nicht Gekanntes, nichts Genanntes des Berlins vor 100 Jahren schimmert auf.
Die Texte in „Die kreisende Weltfabrik“ sind Mischungen aus Essay und Dichtung. Reales wird Dichterisch, Dichteresches real. Bisweilen ist die Schreiberin spöttisch, bisweilen eine sarkastische Polemikerin. Eigene Marotten und die der sie Umgebenen sind für sie Anlaß gewesen, die knappen Aufzeichnungen möglich und nötig zu machen.
So auch einer der umfangreichsten Texte des Bandes, der „Mein Junge“ überschrieben ist. Welch ein Text einer Mutter, der mit den kargen, klaren Worten beginnt: „Und doch gerade bemühe ich mich, wahrheitsgetreu über ihn zu schreiben“. Was heißt hier „wahrheitsgetreu“? Es heißt aufrichtig, nicht anklagend, nicht wehklagend über den Verlorenen zu sprechen. Heißt, den Talentierten ohne Überschwang zu rühmen und zu ehren. In der kurzen Geschichte des kurzen Lebens ihres Sohnes Paul (1899-1927) ist genug von der Geschichte der Else Lasker-Schüler. Wie in allen Texten von „Die kreisende Weltfabrik“. Sie sind eine gute Gelegenheit, gelegentlich gelesen zu werden. Stück für Stück. Unbedingt!
Else Lasker-Schüler: Die kreisende Weltfabrik. Berliner Ansichten und Porträts. Hrsg., Nachwort Heidrun Loeper. Transit Buchverlag: Berlin 2012. 128 Seiten. Geb., ISBN 978-3-88747-282-5

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