Archipel der Anarchie II

Das Wort – Was wenn etwas fehlt?

„Als der Mensch begann sich selbst zu viel zu werden und anfing sich seiner Gattung schmerzlich zu entledigen, blieb nichts übrig auf den nun ruhigen Wassern des einen Ozeans, außer einem kleinen Archipel; dem Archipel der Anarchie, wo die ersten und letzten ihrer Art beheimatet sind, die Anarchen. Freie Wesen, unter ihnen die Menschen, die in friedvoller Koexistenz miteinander her leben.“, sagte B. und stieg in das kleine mit Brettern aus Hyazinthenholz behauene Boot auf dem Weg nach Nirgendwo ans Ende des Kosmos, mit nicht mehr behangen als dem ausgeleierten mit weißen Farbtupfern übersäten, neonschwarzen Pullunder, um dort Wohnung zu nehmen, beauftragt den passierenden Pilgern von der neuen Welt, dem neuen Menschengeschlecht, eingefangen in den Grenzen seiner kunstvoll ausgeschmückten, akazienbraunfarbigen Bilderrahmen der eigenen Vernunft, zu berichten.

„Im Anfang war das Wort und nur das Wort, das ganz fassungslos, gesponnen am Rad der Zeitenwende, vom Himmel auf die Erde fiel.

Im Anfang war das Wort, der Sinn, der Verstand; und alles war eins.“, sagte B. und setzte sich, den Blick auf den sich formierenden kupfernen, mit Staub geschmückten Sternenwirbel gerichtet, als er den Acheron passierte, um sich mit Omphalos zu vermählen.

Revolte

§ 1

Als die Anarchen den Krieg in freier Übereinkunft mit allen Parteien gewannen und die Herrschaft der Dinge, die letzte aller Herrschaften, beendet worden war, befreite sich zuallererst die Sprache. Da erkannten sich die Menschen und es viel ihnen wie Schuppen von den Augen. Töricht waren sie gewesen.

§ 2

Es gab nur noch das Ich und das Du, denn ein jeder begegnete dem anderen in gegenseitiger Liebe. Weiße Menschen, schwarze Menschen, Menschen mit oder ohne Armen, Blinde und Taube. Juden, Muslime, Christen und Heiden.

§ 3

Es gab weder das Es, denn mit dem Dahinscheiden des Es war die Herrschaft der Dinge beendet, geschweige denn ein Wir oder Ihr, nur den einen und den anderen, damit sich keine Rotte mehr über jemanden erheben brauchte.

§ 4

Keiner brauchte mehr die Dinge zu fürchten, denn der Mensch gab ihnen eine Seele. Oh, welch wundersame Wechselwirkung stellte sich ein, als der Mensch anfing mit den Dingen zu sprechen und auf ihre Antworten wartete. Und sie freuten sich über die Dinge, als sie anfingen Fragen zu stellen.

§ 5

Ein Stuhl war kein Stuhl mehr, ein Tisch kein Tisch und ein Stift kein Stift. Es gab ja nur noch das Ich und das Du. Namen waren überflüssig, als der Mensch begann sich in die Endloskette seiner und der himmlischen Schöpfung einzureihen, um im ewigen Du aufzugehen, das alles mit allem verband, die treibende Kraft, die Brücke zur Welt der Beziehungen.

§ 6

Was waren die ersten Worte der neuen Welt?

„Du?“,

fragte der erste Mensch und da erkannte der andere sich

„Ich?“

und fortan lebte alles in Eintracht, im Gleichklang des Schweigens.

§ 7

Denn das Schweigen ist die Sprache der Schöpfung. Als der Mensch inne hielt und anfing zu Schweigen, da war er in der Lage zuzuhören. Als der Mensch anfing zuzuhören, da floh der Hass aus seiner Sprache mitsamt den anderen Schrecken, die er einst über die Schöpfung brachte.

§ 8

Die Anarchen kennen keine Wörter, die das infernalische Feuer heraufbeschwören. Sie kennen nur die Wörter der Liebe und Hingabe zueinander, mit der sie allen Dingen Leben einhauchen. Da sie keine Wörter des Hasses gebrauchen sind sie nicht auf die Dinge des Hasses angewiesen und so schaffen und erdenken sich nur Dinge der Liebe innerhalb ihres Tagwerks. Insgesamt nutzen die Anarchen nur sehr wenige Worte, da sie das Schweigen schätzen gelernt haben. Sie sprechen kurze Sätze voll an Ausdruck und Klang in einem alle Ebenen der Emotion ansprechenden Rhythmus, gespeist aus dem Gleichklang des Einen dessen Frequenz in ihrer Kehle vibriert.

§ 9

Die Anarchen beherrschen jede Geste, denn für sie sind Gesten Kunst, Spiel und Ausdruck zugleich. Sie lieben die fließende Bewegung, als wehte ein zarter Hauch über goldgelbe Gerstenfelder im Lichte der Spätsommersonne.

§ 10

Die Anarchen lachen, und sie lachen ein echtes Lachen, weinen echte Tränen und verspüren echte Freuden, da die Maske, die ihnen das Ding überstülpte, heruntergerissen ward.

§ 11

Die Kinder der Anarchen lernen die Sprache durch Nachahmung, bringt doch jede ihrer Generationen eine eigene hervor. Sprechen ist ein performativer Akt der Selbstaufgabe und -offenbarung, bei der alle Sinne angesprochen und genutzt werden.

§ 12

Die Anarchen kennen vier Sprachen mit denen sie einander begegnen: Die Sprache der Natur, die Sprache der Dinge, die Sprache des Klangs und die Sprache des Tanzes.

§ 13

Die Sprache der Natur verleiht allem Lebendigen eine Seele und damit Würde. Dem tut es die Sprache der Dinge gleich, denn jedes Ding ist gleich viel wert wie das Leben seines Schöpfers, ist Teil, was bedeutet, dass es geteilt werden will. So kommt dem Ding kein Unleben zuteil, damit es den Menschen nicht erneut unterwerfe;

Nein, durch das ihm verliehene Eigenleben reiht sich das Ding in die lebendige Schöpfung ein, gereicht ihr zum Segen. Es, das Ding, wird vom Es zum Du.

§ 14

Die Sprache des Klangs formt die Worte der Liebe, mit der eine solch süße Poesie den Alltag bereichernd geformt wird, die beim ersten Hören einen jeden ergriffen die Tränen in die Augen treiben lässt, überwältigt von der bedingungslosen Hingabe. Man stelle es sich wie ein Ringen nach Luft vor, stiege man aus giftigen Dämpfen empor und ließe ein, den reinigenden Sauerstoff.

Berauscht von der Schönheit der Worte kommt der Mensch in Bewegung, tanzt im Gleichschritt dieser Melodien seinem Gegenüber entgegen.

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Karim (Abdul Absolem Alhazred) lebt seit fünfundzwanzig Jahren auf dieser Welt. Seine Jugend und Kindheit verbrachte er auf Reisen durch den europäischen Kontinent. Israel/Palästina ist und bleibt Sehnsuchtsort und Muse. Seit dem Jahr zweitausend-einundzwanzig studiert er Theologie und die Sprachen und Kulturen des Judentums. Er engagiert sich beruflich in der Vermittlung von Sprache und Bibel.

2 Kommentare

  1. Fremdling mit dem unverständlichen Namen, was du beschreibst, ist uns widerfahren:

    „…der Mensch in Bewegung, tanzt im Gleichschritt dieser Melodien seinem Gegenüber entgegen.“

    Möge Apollo aus Didyma dich beschützen vor diesen Melodien, deren Schwarzpulvertakt mir noch immer das Gedächtnis verräuchert.

  2. „Es war aber auf den Inseln der Seligen, dass ein unbekanntes Wesen vom Himmel herabfiel, seine Engelsarme einzog, auf seine zweimal drei Beine gestützt scheinbar aufrecht zum Stehen kam und mit Donnerstimme zu singen anhub:

    IT‘S BEEN A HARD DAY‘S NIGHT…

    Da hatten die seligen Herzen mit einemmal Widerhaken, und aus den Gallenblasen quoll das Gift gelb wie die Sonne eines fremden Sterns.“

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