[oden | wälder … wir ruderten die themse hinauf nach maiden | head]

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wir ruderten die themse hinauf nach maiden | head]
wörtliche rede

wir legen hörrohre
in die weit verzweigten enden der wälder
die fein verästelten adern ihrer wurzel und blattwerke
in das grüne auge mit der herbstfarbenen iris
die pulst unter der rinde
quillt
als harz aus allen schnitten
süß duftende wunden
verletzungen
waldtränen
rinnsale gerinne flüsse des todes
alles mit sich reißend
was nicht gehalten wird durch die kräfte der nacht
der poesie des mondlichts
oder neon
oder LED
[pssst
schhh]
wir legen störrohre ins labyrinth

Die verrückte Feuerwehr

In den südlichen Ländern war eine seltsame Feuersbrunst ausgebrochen: Sie befiel nur die Pinien. Die Zypressen ließ sie stehen. Auch die Föhren und Tannen, von Birken und Eschen ganz zu schweigen. Vor allem, nein, nahezu ausschließlich fraß das Feuer die wunderbar knorrigen, alten Pienen­bäume, die im Wind, der vom Mittelmeer heraufwehte, behaglich knurrten. Es war ein Trauerspiel. Jahrhunderte alte Bäume, die von Förstern und Waldpflegern umsorgt und gehegt worden waren, loderten wie Kerzen auf und zerfielen zu Asche. Sicherlich hatte die Trockenheit der letzten Jahre, die den Boden metertief ausgedörrt hatte, dazu beigetragen, daß ausgerechnet die Pinien so leicht für die Flammen empfänglich geworden waren.

Ein weiteres, noch nie beobachtetes Phänomen wurde von den Waldpflegern festgestellt: unsichtbare Wärmestrahlen, die von allen brennbaren Materialien ausgingen, konnten die armen Pinien in Windeseile erhitzen, indem sie Wirbel und Strudel um sie herum bildeten. Für das menschliche Auge waren sie nicht wahrnehmbar. Wer seine Hand an den Stamm eines betroffenen Baumes hielt, spürte, wie Wärmeblitze die Haut durchdrangen, und zuckte unwillkürlich zusammen. Daher war es jedermann klar, dass es sich um eine seltsame, neuartige Feuersbrunst handelte.

Zuerst brachen die Feuer lokal aus. In ein paar Dörfern, die gleich hinter dem muschelkalkweißen Stränden lagen. Dort konnten sie schnell gelöscht werden und niemand beachtete sie. Die Menschen unterschätzten die unsichtbare Wärmestrahlung, die von allem ausging, was überhaupt brennen konnte. Zumindest behauptete das ein Feuerwehrhauptmann, der sich mit dem Oberförster über die Baumbrände unterhielt. Der Förster konnte es, ehrlich gesagt, kaum glauben.

Bald brannten nicht nur in seinem Dorf die Pinien, sondern entlang der gesamten Küste. Erst nur entlang der Küste Italiens, dann breitete sich das Feuer nach Osten und Westen aus, ergriff die Pinien Griechenlands und Spaniens. Als die seltsame Feuersbrunst sich Richtung Norden vorwärtszufressen anschickte und geradenwegs auf Rom zumarschierte, später dann auch mitten ins Herz von Madrid und Athen zielte – da reichte es den Regierungen: Sie beschlossen, Maßnahmen zu ergreifen.

Ersparen wir uns, die Maßnahmen im Detail zu erläutern. Es genügt, wenn wir behaupten, daß sie notwendig waren. Und, nebenbei bemerkt, waren sie äußerst raffiniert. Der schlaue Feuerwehrhauptmann von der Küste hatte sich nämlich als erster erfolgreicher Feuersbrunstbekämpfer bei der Re­gierung um einen Beraterposten beworben. In ihrer Ratlosigkeit und – ehrlich gesagt – Un­wissenheit nahm die Regierung diese Bewerbung eines Fachmanns und aus­ge­wiesenen Kenners dankbar an.

Noch loderten die Flammen vor den Toren der Stadt, daß Nero seine helle Freude gehabt hätte, schon überhäuften sie den Feuerwehrhauptmann mit glitzernden Orden und Medaillen. Welche bahnbrechende, patentwürdige Idee hatte unser kühner Hauptmann den Mächtigen eingeflüstert? Nicht etwa, daß es darauf ankomme, neben jeder Pinie ein Faß voll Wasser aufzustellen oder gar einen Hydranten zu installieren. Auch Flugzeuge oder Hubschrauber, die über unseren schönen Pinienwäldern Wasser abwerfen könnten, empfahl er nicht. Nein, der tollkühne Retter der Pinien ersann eine Methode, die anfangs nur er allein verstand. Denn nur er wußte von den unsichtbaren Wärmestrahlen, die von allem Brennbaren ausgingen und die armen Pinien so gnaden­los in den Feuertod rissen. Also, dachte er sich, würde es nichts helfen, die Pinien mit Wasser zu übergießen, wie es die Feuerwehr bisher getan hatte. Man mußte alle brennbaren Stoffe, die sich in der Nähe der Pinien befanden, wegräumen.

Nicht nur wegräumen, vernichten mußte man sie – Sträucher, Bäume anderer Art, Blumen, selbst winzige Kräuter und Gräser – alles sollte entfernt, gehäckselt und geordnet in Müllverbrennungsanlagen unschädlich gemacht werden, damit es die Pinien nicht mehr entzünden konnte. „Feuerbekämpfung durch Müllverbrennung“ lautete die Devise. Selbst die jungen Pinien sollten nicht verschont bleiben, um die schönen, knorrigen, alten Pinien zu schützen.

Die Feuerwehr zögerte erst, dieser neuen Aufgabe nachzukommen. Wie all die Zeiten zuvor wollte sie stur Schläuche mit Wasser füllen und unter Hochdruck auf die Brandherde spritzen – aus der Traum. Die Regierung glaubte dem Hauptmann, denn nur er hatte das Geheimnis der unsichtbaren Wärmestrahlen durchschaut. Und siehe da: nach einigen Tagen gehorchten die Feuerwehrleute, tauschten Spritzen und Schläuche gegen Hacken und Häcksler. Überall im Land rodeten sie, was nur irgendwie grünte und blühte, das hieß, was irgendwann welkte, verdorrte und zweifellos in brennbares Material verwandeln konnte.

Die Feuersbrunst indes war von der heroischen Aktion nicht im mindesten beeindruckt. Sie rückte weiter auf Rom vor, ja sie übersprang die südlichen Haupt­städte und näherte sich unaufhaltsam den nördlichen Ländern. Die vornehmen Regierungen dort erbleichten, als sie den Qualm rochen, der über ihre Grenzen quoll. Schlagbäume, das war ihnen klar, würden weder den Rauch, noch das Feuer aufhalten können. Jammerschade, daß diese bewährte Methode der Problemeindämmung in diesem Fall nicht wirkte. Sich einigeln oder in einen Kokon einspinnen und abwarten – zu schön war diese Vorstellung. Ehrlich gesagt, hatten sie auch keine bessere Idee als der kluge Hauptmann von den südlichen Gestaden, der bereits begonnen hatte, ihre Feuerwehren zu beraten.

Nur einen kleinen, aber entscheidenden Unterschied gab es: Die nördlichen Länder schätzten die Maßnahmen der südlichen Länder gewohn­heitsmäßig als viel zu lasch und milde ein, geradezu schlampig, kein Wunder, daß sie nichts fruchteten. Zum Glück gab es immer weniger Pinien je nördlicher man kam, dies würde dem Feuer ganz von alleine Einhalt gebieten, hofften die Nordmenschen insgeheim. Doch gefehlt. Die seltsame Feuersbrunst fand auch Gefallen an Kiefern, sogar an Latschenkiefern hoch in den Alpen. Da ward auch den Mächtigen im Norden klar, daß sie etwas tun mußten. Das gebot die Menschenliebe, die Solidarität, überhaupt die gesamte Niko­machische Ethik.

Noch wirksamer erwies sich als Leitfaden der kategorische Imperativ, das wußten die Nordmenschen sehr genau. Auf den Kant konnten sie sich verlassen, der würde das Feuer besiegen, bevor es die Ostsee und die Nordsee erreichte. Also befahlen sie nicht nur der Feuerwehr, sondern konsequent allen Menschen ab dem 16. Lebensjahr sich an der Ausrottung alles potentiell Brennbaren zu beteiligen. Um den Kampf gegen das Feuer in den Köpfen zu festigen, sprachen sie vom exponentiell Im­flamablen, das verhindert werden müsse. Jeder, der sich an diesem Kampf beteilige, sei ein guter und vernünftiger, weitsichtiger und moderner Mensch. Zeitgenossen, die behaupteten, Feuer bekämpfe man mit Wasser oder mit einer alten Pferdedecke, die man über die Flammen werfe, um sie zu ersticken, wurden als verlorene Kinder Gottes belächelt. Bald würden sie selber in den Flammen lodern, würde man ihre altmodischen Ratschläge befolgen.

Stattdessen investierten die Regierungen – nun vereint sowohl der nördlichen als auch der südlichen Länder – mehrere Jahresstaatshaushalte, alle arbeitsfähigen Menschen von ihrer eigentlichen Arbeit zu entbinden und für die Rodung, sprich Ausrottung sämtlichen pflanzlichen Materials einzusetzen, das keine Pinie oder Kiefer war.

Drei Jahre später.

Das Werk war vollendet: Ringsum stiegen noch hauchdünne Rauchsäulen aus den Aschehäufchen auf, zugegeben nur hier und da. In alle Himmelsrichtungen erstreckte sich endlich eine flammenfreie, kahle, graue Landschaft. Am Horizont jedoch ragten noch ein paar alte knorrige Pinien und Kiefern mit ihren wunderbaren dunkelgrünen dicken Nadeln empor – welch ein erhebender, minimalistischer Anblick. Kein Künstler hätte der Welt ein schöneres Bild schenken können. Der kluge Hauptmann von der Küste wurde zum Ehrenhauptmann ernannt und erhielt einen Thron – natürlich gezimmert aus gerettetem Pinienholz.

Das Glück, ihr könnt es euch denken, währte nicht lang. Kaum hatte der Feuerwehrhauptmann befriedigt auf dem Thron Platz genommen, hoben von allen Seiten Stürme an. Der Wind fegte in bisher unbekannter Geschwindigkeit über die leer­geräumte Erdkugel und knickte die letzten verbliebenen, ehrlich gesagt, schon etwas alters­schwachen Pinien wie Streichhölzer um. Die Menschen begannen sich, um die Asche zu streiten und zu schlagen, die der Wind aufwirbelte. Denn sie hatten nicht einmal mehr Felle, um sich zu kleiden. Die Asche aber, gab ihnen für einen kurzen Moment noch einmal Wärme, bevor sie endgültig erkaltete.

Eine Stunde

Wurde uns geschenkt : damit wir
Durchs Laub gleiten : beinahe geräuschlos
Fällt es herab : die Äpfel schwimmen
Im Fließ : wir stechen das Ruder

Ins Flache und stoßen uns ab
Die Abstoßungskräfte : sie wachsen
Den Worten wohnt Unerbittlichkeit
Inne : jeder ist nur auf sich selbst

Bedacht : saure Gurken
In Dillsoße : gläsern eingesperrt
Das sind wir : wenn wir uns ansehen
Ohne uns wahrzunehmen : der Zeitzauberer

Hat uns eine Stunde geschenkt
Am längsten Tag des Jahres : wir
Nutzen sie : bis die Arme schmerzen

Die Stimme rau geworden ist : das Herz
Versteinert in der Waldmühle schlägt
Drei Häuser weiter der Holländermichel

Pandemische Paradoxien 2 (Update): Wie geht es den Falsch-Positiven?

Die Prävalenz-Falle

Insgesamt wirft diese Befundlage zur Fehlerhaftigkeit des RT-PCR-Tests mehr Fragen auf, als sie be­antwortet. Eine indische Forscher­gruppe wertete im April 2020 die Corona-Zahlen aus 210 Ländern aus und korrelierte sie mit demographischen, soziologischen sowie gesundheitspolitischen Daten, auf die ich inhaltlich im Abschnitt „Kontexte“ zurückkomme. Dabei stellten die Forscher ver­schiedene Un­gereimtheiten fest, die auf methodische Mängel der Erhebungen zu Covid-19 zurück­zuführen seien: „Die gegenwärtige Form der Diagnostik überschätzt wahrscheinlich die SARS-CoV-2-Infektiosität sowie die Morbidität und Mortalität von Covid-19, da sie darauf abzielt, SARS-CoV-2 in allen vermuteten Grippefällen und allen Todesfällen in den Pandemieregionen nachzuweisen. Eine höhere Anzahl von Fällen wurde in Ländern mit einer hohen Alphabetisierung und stärkeren Volkswirtschaft registriert, die auch über eine höhere Testkapazität verfügen, was ebenfalls darauf hinweist, daß sie möglicherweise überdiagnostiziert wurden. Gegenwärtig folgt das Testen auf COVID-9 nicht dem Ziel, die wahre Verbreitung der Krankheit (disease mapping) zu identifizieren. Bis die Tests nach einem soliden Stichprobenplan durchgeführt werden, kann die tatsächliche Inzidenz und Prävalenz der Krankheit nicht genau bestimmt werden. Wenn keine repräsentativen Erkennt­nisse zur wahren Verbreitung der Krankheit vorliegen, sind auch ihre Determinanten nicht korrekt beschreibbar … Ein hoher Anteil falsch-positiver Befunde von Covid-19-Tests hat kostspielige Folgen, die für eine wirksame Seuchenbekämpfung in Kauf genommen werden. Der aktuelle RT-PCR-basierte Labortest zeichnet sich jedoch durch einen hohen negativen Vor­hersagewert aus und kann dazu führen, daß eine große Anzahl positiver Fälle übersehen wird, was zur anhaltenden Ausbreitung der Pandemie beitragen kann. Negative RT-PCR-Ergebnisse für Covid-19 erfordern wiederholte Tests, um das negative Ergebnis zu bestätigen. Daher ist ein besserer Test mit höheren positiven und negativen Vorhersagewerten erforderlich, um die wahre Anzahl positiver und negativer Fälle bestimmen zu können.“ (Singh et al. 2020, Übersetzung VK)

Die Strategie, von Personen mit Erkältungssymptomen einen Abstrich für den Labortest zu nehmen, erweist sich also aus mindestens zwei Gründen als fragwürdig: Erstens entsteht auf diese Weise kein realistisches Bild von der Verbreitung von Covid-19, da die Stichprobe nicht re­prä­sentativ ist und Prävalenz sowie Inzidenz nicht bestimmt werden können. In den täglichen Nachrichtenmeldungen wird aber seit Anfang März so getan, als handelte es sich um diese Werte, indem irreführend von täglichen Neuinfektionen und ähnlichem gesprochen wird. Zweitens ist das klinische Bild, das den Corona-Labortest veranlaßt, identisch mit den Anzeichen einer „Grippe“, wie sie durch Influenza und andere Erkältungsviren hervorgerufen wird. Getestet wird aber nur das neue Coronavirus – wahr­schein­­liche Komorbiditäten mit anderen saisonalen Viren bleiben unerkannt. Eine derartig frag­mentarische Diagnostik ist nicht nur für den medizinischen Er­kennt­nis­gewinn unbrauchbar, son­dern auch für die Ableitung eines angemessenen individuellen Thera­pieplans. Daraus wiederum resultieren zahlreiche praktische und ethische Probleme.

Bereits während des Vietnamkrieges, als es darum ging, mit welcher Wahrscheinlichkeit ameri­ka­nische Piloten vietnamesische von kambodschanischen Kampfjets unterscheiden können, (CIA, 2008), später bei der Interpretation von massenhaft gespeicherten Fluggastdaten nach 9/11, schließ­l­ich auch bei  Einstufung der Zahl zu Unrecht verdächtigter Personen bei Rasterfahndungen mit DNA-Tests – immer wenn es sich um große Zahlen handelt, können auch kleinste Meßfehler zu gra­­vierenden Fehlinterpretationen beitragen. Menschen lassen sich in ihrem intuitiven Zahlen­ver­ständnis eher vom Augenschein als von bedingten Wahrscheinlichkeiten leiten (Tversky & Kahne­man, 1974). So mag ein Patient glauben, wenn ihm der Arzt die Kunde von einem positiven Corona-Laborbefund überbringt, daß er sich also mit 98%iger Sicherheit nun mit Covid-19 infiziert habe, denn der PCR-Test habe doch eine solch hohe Genauigkeit (Spezifität). Dieser Glaube, der gegenwärtig weit verbreitet zu sein und auch von unseren Datenjournalisten geteilt, zumindest nicht aktiv ausgeräumt zu werden scheint, beruht jedoch auf einem folgenschweren Irrtum, der in der Literatur als „Prävalenzfehler“ oder „Base Rate Fallacy“ bekannt ist und ins Erstsemester Sta­tistik gehört. Wenn pro Woche, wie es seit Ende August 2020 in Deutschland der Fall ist, eine Million PCR-Tests durchgeführt werden, dann führt auch eine scheinbar kleine Falsch-Positv-Rate von 2% zu einer immensen Anzahl irrtümlich mit einer Covid-19-Erkrankung („Infektion“) verdächtigter Per­sonen: Nehmen wir an, das neue Coronavirus hat sich bereits bei 1% der Bevölkerung aus­ge­breitet – diese Zahl wird Prävalenz genannt. Dann sollte der Test bei 10’000 der untersuchten Personen ein po­sitives Ergebnis anzeigen. Mindestens, muß man sagen, denn aufgrund der durchaus realistschen Fehlerquote wird er darüber hinaus bei 2% der 990000 Personen, die keinen Abschnitt des Corona­virus in sich tragen, ebenfalls mit einem positiven Laborergebnis anschlagen: es handelt sich um  19800 falsch positive Laborbefunde, die pro Woche allein durch die Falsch-Positiv-Quote „ein­ge­preist“ werden müssten – davon aber ist in unseren Nachrichten keine Rede. Vielmehr wird irre­füh­rend ein positiver Laborbefund mit einer aktiven klinischen Infektion gleichgesetzt, was schlicht­weg eine Falschmeldung ist. Tatsächlich beträgt die Wahrscheinlichkeit, erkrankt zu sein, wenn ein positiver Labor­befund vorliegt, bei einer Prävalenz von 1% lediglich 33.5%.

Prävalenz

Falsch-Positive

Wahrscheinlichkeit einer Infektion

0.5%

19900

20.0%

1%

19800

33.5%

1.5%

19700

43.2%

2%

19600

50.5%

3%

19400

60.7%

5%

19000

72.5%

10%

18000

84.7%

25%

15000

94.3%

50%

10000

98.0%

Tabelle 2: Modellrechnung zur Auswirkung der Prävalenz (base rate) auf die Wahrscheinlichkeit, bei einem positiven PCR-Laborbefund tatsächlich mit Covid-19 infiziert zu sein (Parameter:  N= 1’000’000, Spezfität 98%, Sensitivität 100%)

 

Deutlich wird, daß die Wahrscheinlichkeit, mit der bei einem positiven Laborbefund auch von einer tatsächlichen Infektion auszugehen ist, keinesfalls a priori mit 100% anzusetzen ist, sondern maß­geblich von der aktuellen Gesamtzahl der bereits Infizierten, der Basisrate, abhängt. Dabei handelt es sich nicht im epidemiologischen Sinne um die sogenannte „Durchseuchung“, also dier Personen, die die Erkrankung bereits durchstanden haben und damit immun geworden sind, sondern um die Zahl der aktiven Fälle, die mit einem PCR-Test erfasst werden können.  Erst wenn jeder Zweite, der einen positiven Laborbefund empfängt, auch klinische Symptome zeigt, können wir von einer 98%igen Wahrscheinlichkeit ausgehen, daß er auch an Covid-19 erkrankt ist.

Die Prävalenz ist also ein ausschlaggebender Faktor, um die täglich im Halbstundentakt ver­mel­dete Zahl der Positivbefunde, die von den Datenjournalisten irrreführend mit der Zahl der In­fi­zierten gleichgesetzt wird, realistisch einordnen zu können. Die Testkapazität hat keinen Einfluß auf die Infektionswahrscheinlichkeit. Bei einer geringen Prävalenz schießt vielmehr bei einer gleichzeitig hohen Testkapazität die absolute Zahl der fälschlicherweise mit einer Covid-19-In­fek­tion in Verbindung ge­brachten Personen in die Höhe – was nicht im Sinne der Gesundheitsvorsorge sein kann, aber just zum Herbstbeginn der Fall war. Das Mot­to „Test, test, test!“ erweist sich damit als irreführend – es kommt vielmehr auf die Qualität der Teststrategie an.

Um die Prävalenz zu messen, benötigt man eine re­prä­sen­tative Auswahl der Stich­probe. Davon ist die „nationale Teststrategie“ in Deutschland weit entfernt (vgl. „Aktualisierung der Nationalen Teststrategie vom 15.10.2020 auf www.rki.de). Wurden im Frühjahr 2020 selektiv Per­sonen mit Erkältungssymptomen getestet, waren es im Sommer die Urlaubs­rück­kehrer aus dem Ausland und vor den Herbstferien die Inlandstouristen, die aus Regionen mit hö­herer Inzidenz in eine Region mit niedrigerer Inzidenz fahren wollten – mit einer wissen­schaft­lichen Studie, die anhand demo­gra­phischer Kriterien einen repräsentativen Be­völ­ke­rungs­quer­schnitt testet, hat all das nichts zu tun – Zweifel an der wissenschaftlichen Ernsthaftigkeit der Re­gierung sind daher mehr als angebracht, mag sie sich selbst noch so häufig als wissenschaftlich orientiert gegenüber der Willkürherrschaft autoritärer Machthaber in anderen Ländern bezeichnen. Die anhaltende Ver­wei­gerung, eine fundierte Prävalenz­studie für Deutschland zu initiieren, gibt gesund­heitspolitische Rät­sel auf.

Seit April 2020 erfaßt das RKI das Vorkommen von Corona-Antikörpern bei Blutspendern (SeBlu­Co-Studie). Alle zwei Wochen werden ca. 5000 Blutproben gesunder erwachsener Personen von 13 Blutspendediensten, die auf 28 Regionen Deutschlands verteilt sind, auf Seropositivität untersucht. Eine Zwischenauswertung zum 19. August 2020 brachte folgende Ergebnisse: „Der Anteil von Personen mit spezifischen Antikörpern gegen SARS-CoV-2 unter blutspendenden Erwachsenen ist mit 1.25% weiterhin gering.“ Ergänzend wurden bei 65% der Proben ergänzende „Neu­tra­li­sa­tions­tests“ durchgeführt, um falsch-positive Befunde auszuschließen. „Von diesen hatten ca. 27% (96/362) auch nachweisbare neutralisierende Antikörper.“ – d.h., die korrigierte Prävalenz lag im August bei ca.  0.34%. „Die Seroprävalenz war bei Männern signifikant höher als bei Frauen (1.48 bzw. 0.96%) Es wurden Unterschiede in der Altersverteilung der Seropositiven erkennbar. Die drei jüngsten Altersgruppen (18-29 Jahre) der SeBluCo-Teilnehmerinnen und -Teilnehmer zeigen nach Auswertung von ca. 50% der Studiendaten die höchste adjustierte Prävalenz. Die Regionen Freiburg und Bayern Süd-Ost haben den höchsten Anteil an Seropositiven.“ (Quelle: www.rki.de)

Im Hotspot Gangelt ermittelte das Team von Hendrick Streek dagegen eine Prävalenz von 20% – sie kann jedoch ebenfalls nicht als repräsentativ angesehen werden.

In seiner umstrittenen Berechnung des Nutzens des Lockdowns für die Eindämmung der Pan­demie ging das Imperial College im Juni 2020 von 0.85 % Prävalenz für Deutschland aus (Flax­man, 2020).

Eine der bisher qualitativ besten Prävalenzmessungen stammt von Mai 2020 aus Brazilien (Hallal et al., 2020). Es wurde eine anhand von 25 Census-Kriterien ausgeglichene Zufallsstichprobe in 133 Städten, proportional zur Bevölkerungsgröße gezogen, mit mindestens jeweils ca. 250 Teilnehmern. Insgesamt nahmen 25955 Probanden an der Studie teil. Es wurde wiederum die Seropositivität be­stimmt. Ohne statistische Korrekturen betrug die krude Prävalenz 1.39%.

Im WHO Bulletin vom 15. Oktober 2020 veröffentlichte John Ioannidis eine Übersicht zu allen serologischen Corona-Antikörpertests weltweit seit Beginn der Pandemie (es wurden vor allem Studien während der ersten Welle ausgewertet). Dabei wurden Prävalenzstudien zur Verbreitung des Coronavirus im Krankenhauspersonal oder in bestimmten religösen Gruppen nicht berücksichtigt. Im Ergebnis wurden 61 Studien mit ingesamt 74 Prävalenzschätzungen zusammengetragen – Deutschland war lediglich durch die Streek-Studie in Gangelt und eine Unter­suchung in Frank­furt a.M. vertreten. Die Prävalenz schwankte weltweit zwischen 0 und 54.4% (in den Slums von Mumbai). Die Infektions-Fatalitätsquote betrug 0-1.63% (im US-Bundesstaat Louisiana). Aufgrund dieser großen Spannbreite kam Ioan­nidis zu dem Schluß, daß eine klassische Meta-Analyse, um die Daten mehrerer Studien zusammenzufassen, nicht in Frage komme. Vielmehr grup­pierte er die Ergebnisse anhand des globalen Mittelwertes (118 Coronatote / 1 Million Einwohner): in 51 Regionen, die unter diesem Mittel­wert lagen, betrug die Fatalitätsquote 0.09%, in Regionen mit überdurchschnittlicher Mor­talität schwankte die durchschnittliche Fatalitätsquote zwischen  0.20% und 0.57%. Bei Menschen, die jünger als 70 Jahre waren, lag die krude Fatalitätsquote bei 0.31%, nach statischer Korrektur bei 0.05%.

Ioannidis folgerte, daß die Sterblichkeit an Covid-19 damit deutlich unter den Befürchtungen vom Beginn der Pandemie und den Zahlen aus Wuhan einzustufen sei. Regionale Unterschiede ergeben sich in Folge der Altersstruktur der Bevölkerung, Bevölkerungsdichte und der Vorbelastung mit Atemwegserkrankungen, z.B. in Zusammenhang mit der Luftverschmutzung.

Ioannidis’ Metastudie gibt am Ende beiden Lagern recht: den Alarmisten, die nicht genug vor der Gefährlichkeit des neuen Virus warnen und mahnen können, wie auch den Verharmlosern, die Covid-19 keine besondere Gefährlichkeit zuschreiben: Es hängt jeweils von den Kontext­be­din­gungen ab. In einigen wenigen Regionen übersteigt die Tödlichkeit des neuen Virus um das Zehn- bis Zwanzigfache die Tödlichkeit der bekannten Grippeviren. In vielen anderen Regionen ist es aber im Durchschnitt ähnlich oder sogar weniger gefährlich als die Grippe.

(Den gesamten Beitrag finden Sie im Essay „Zahlenspiele“.)

 

Über die Bewahrung von Sinn und Form beim Übersetzen

Der Satz, eine Folge von Speerspitzen. Partitur
Der Vers, ein Speer – ein einziger Text
Einheiten übersetzen, Texteinheiten – Gestaltwandel:
Im f u n k t i o n a l – s e m a n t i s c h e n Feld zweier
Sprachen wird Vollständigkeit definierbar!
Nichts weglassen oder hinzufügen. Alles geben !!

Ideal: der konservative Revolutionär
„Deine blauen Augen…“

Und jetzt bitte nicht die
sog. PC

Ein Diléttant

Das Metall,
kälter als Luft.

Der Himmel grau,
noch weiß

fast fahren Baugerüste

in ihn hinein, die Kirche
schießt dünnste Türme
nach oben, ihn
zu berühren.

Sie schafft nicht, die tief-
fliegende Wolke
zu stechen.

Der Himmel
bedeckt, was darunter hängt,

da reißt er  auf
und stellt sich bloß.
_

Länger als eine Stunde
wird der Weg sein.

In die nächste Bahn
hinein, gegen das Fenster
im fast leeren Zug

sitzt sie
mit Kopien in der Mappe
gepresst an ihren Mantel.

„Was beschäftigt dich?“

Die Lichtschnur von kaltem Gelb,
die schwarzpunktierten Blicke
der zwei Älteren, wer

war Musil, ein Diléttant?

Den Raum verschließt
sie nicht, das darf sie
nicht, da sitzt noch jemand.

Ebene sieben

Sangesi spricht.

Sie sagen, gestorben seien die Rjurik und Romanow,
Gefallen die Kalédin, Krymów, Kornílow und Koltschak…
Nein! Mit den Sklaven (kämpfte/ die polnische Garde) trieb es Pan, der Durchtriebene [waren da Kastraten & Jungpioniere, barocke Avantgarde] –
War Kiew schon zig.mal erobert, verbrannt.
Asche, Feuer aus Eis…
Der Reiche weinte: da lachte, wer arm war –
Als Kalédin sich seiner Kosaken entledigte.
Und die Gesetzgebende Versammlung be/traf der//das Schritt/Schlag//Treffen.
Und (es versanken die leeren Schlösser im Dunkel) nun wurden die Innenräume abgedunkelt/- dunkel wurde es in den verwaisten Hütten/Schlössern.
Nein, hier brach „-ten“/“-sern“ hervor,
Wie der Atem Verstorbener,
(7). {…}

gesänge aus den unterwelten

wohin ziehen die dichterinnen
wenn der wald verschwindet
wohin die dichter ohne die gebirge
sie müssen maulwürfe werden
und sich eingraben
im dunklen den schritten lauschen
die über sie hinweggehen
die erde durchpflügen auf der suche nach würmern
da singen die maulwürfe
wird man ihnen nachrufen
sie werden es nicht mehr hören
in ihrem reich
ganz nah bei den toten

marmara

1
der abend hat die straßen
weggespült
die stadt ist nur noch ein meer
aus lichtern stimmen
auch deines ist unter ihnen deine

du bist auf dem weg
in die nacht die stille
menschen
autos
aus einem schacht der luftzug einer u-bahn

am morgen tummeln sich überall fische
delphine

2
gestern erwachte ich
auf der insel
wo der marmor wächst
weißer marmor und
die rehe schlafen bis weit in den tag
unter den kastanienbäumen
wollen wir uns lieben
vom mittag zum mittag
wenn dein atem in der nacht
einen gleichklang bildet
mit dem wind vom meer
will ich ablassen von dir und lauschen
wie du geheimnisse tauschst
mit den stimmen den sternen
den ahnen der fische

3
das geheimnis deiner gedichte
ist ihr verschwinden
über den fischgründen des marmarameeres
die schiffe sultan süleymans versanken dort
mit gold edelsteinen und gewürzen an bord
seitdem leuchtet das meer und funkelt
und sein duft kommt aus fernen ländern

und deine gedichte geben dem meer seine stimme

Poesie und Prosa

Auch er, der Dichter mit dem kindlichen Herzen: nicht frei von Moralinstaub zwischen den Gedanken … und es reizt die übersensible Nase zum Niesen just in dem Moment (b e i m L e s e n) da die dem Leiden entsprungene Verachtung gut und gern auch dich treffen könnte –

<< Oh Hassesblick der Venus
<< Weißt du nicht fern ein Land
<< Mit düsterem Himmel …
<< O Leser, zartes Scheusal

Die ausgewilderten Worte

Den Dingen gleich betreiben sie ihr Spiel
mit der Gleichheit, die ausgewilderten Worte

Den Dingen gleich ernähren sie in der Seele
die Illusion und leben gut davon, die

den Dingen durch Ähnlichkeit verwandten
Worte, die sich fein säuberlich getrennt

immer in einem wortreichen Sicherheits-
abstand zu ja und nein erhalten (diesen Wächtern unser

aller
Kindheit,

Zone Märchenland & Plappergaumen, aus dem es

herausbricht wie Muttermilch aus dem Überfluss

der unter dem Fluss sein Bett und nicht sein Bett

weil er niemandes Fluss ist

wörter

zu risiken und nebenwirkungen fragen sie ihren schriftsteller oder dichter

das flimmern der wörter
beim durchspießen der ausgelegten netzhäute
ihr ton
wenn sie gegen die aufgespannten trommelfelle knallen
ihre formen und umrisse
in den ascherückständen der bücherverbrennungen
wörter
diese gefährlichen herz und hirnschmeichler
ihr druck von hinten auf dein sternum
wir nahmen sie auf
als wir sie verletzt fanden
fast stumm in einem gedicht
wir pflegten und päppelten sie wieder auf
bald werden wir sie auswildern
zwischen menschen ihresgleichen

Im Schnee wird meine Stimme blau

An meinen Versen
hängt noch Nacht.

Bei der Kaimauer
rufen die Möwen nicht mehr,
und Schiffe
fahren zu keinen Ufern.

Worte graben sich in Sohlen
und Ackerfurchen.
Ob sie über mich hinauswachsen
im Frühling
zwischen gestrandeten Gedanken
und morschen Planken –

Du legst mir Meer
vor die Füße,
doch jeder Tropfen rinnt
an einen Ort
jenseits des Lichts.

vater

im unterhemd saßt du
mit dem bleistift in der hand
eine geschichte im kopf
mich auf dem schoß
und in diesem augenblick
flog die sehnsucht über den horizont
das blei des stiftes
kratzte am papier
der schweiß deines körpers
roch nach einem harten tag
und ich auf deinem schoß
der baum auf dem papier
ragten äste in die luft
du warst so leise oder müde
und ich war dein kind
bis dahin

Urlaub, Schule, Wellenangst

oder Das neue Virus wird harmloser

Eine der für medizinische, aber auch juristische Gesichtspunkte entscheidenden Fragen betrifft die Entwicklung des neuen Coronavirus: Wird es im Laufe der Zeit, d.h. im Zuge der für RNA-Viren typischen zahllosen Mutationen, für den Menschen gefährlicher oder harmloser?

Vermeintlich liegen uns dazu keine Erkenntnisse vor. Die Erfahrung mit SARS-1 und MERS aus den letzten Jahren legt nur nahe, daß das neue Virus wahrscheinlich im Laufe der Zeit harmloser wird. Es hat evolutionsbiologisch wenig Sinn, wenn es seine Wirtsorganismen vermehrt umbringt. So resümierte Christian Drosten in seinem „Corona-Update 47“ vom 11.6.2020: „Und dieses An­passen, das kann eben durch zueinander Zufügen von unterschiedlichen Mutationen in unter­schiedlichen Populationsabteilungen passie­ren. Und die phänotypischen Veränderungen, die dabei entstehen können, wären zum Beispiel, dass das Virus noch besser in der Nase repliziert und besser über­tragen wird. Aber in der Nase werden wir nicht allzu krank davon. Das heißt, das Ganze wird auf lange Sicht zu einem Schnupfen, der sich für die Lunge gar nicht mehr interessiert. So etwas könnte passieren.“ Drosten relativiert dieses Szenario auf seine gewohnt flapsige Art im nächsten Atemzug und kehrt es in sein direktes Gegenteil um: „Das Virus optimiert sich auf die Nase und sagen wir mal, lässt die Lunge außer Acht, dann wird das ein Vorteil für das Virus sein. Im anderen Fall, wenn das Virus in seiner Evolution das allgemeine Replikationsniveau steigert, dann haut das überall so richtig rein – in der Nase, aber auch in der Lunge. Und wir fühlen uns dann schneller krank oder viel mehr von uns fühlen uns krank.“

Bevor wir beginnen, auf Grundlage von Spekulationen auf Molekülebene gesundheitspolitische Horrorvisionen zu entwickeln, lohnt es sich, einen Blick auf die tatsächliche Entwicklung der Fallzahlen der Patienten mit Covid-19 in den Intensivstationen zu werfen. Während zu Beginn des Lockdown die befürchtete Überlastung des Gesundheitssystems zum Rechtfertigungsgrund für die grundrechtseinschneidenden Maßnahmen herangezogen wurde, ist es medial in den letzten Monaten bemerkenswert still um die Situation der ITS geworden. Nun neigen sich die Sommerferien des Jahres 2020 dem Ende zu, etliche Urlaubsrückkehrer haben mit PCR-Positivbefunden für Aufsehen  gesorgt. Weiterhin wird – genau wie im März und April – im Halbstundentakt die Absolut­zahl der Infizierten berichtet, als handele es sich um eine valide und interpretierbare Größe.  In einigen Bundesländern hat die Schule bereits begonnen und das Bekanntwerden einzelner Infek­tionen – hier ein Schüler, dort eine Lehrerin – genügte, um ganze Schulen vorübergehend zu schließen.

Tatsächlich beobachten wir eine Schere zwischen der Zahl der PCR-Positivbefunde und der Schwere der Krankheitsverläufe. Ein aussagekräftiges Maß für diese Entwicklung ist der Anteil der ITS-Patienten an der Zahl der aktiven Fälle. Betrachten wir die vom RKI zusammengeführten Angaben der deutschen Gesundsämter, so ist von Mitte April bis Mitte Juli eine kontinuierliche, ja dramatische Abnahme der aktiven Fälle um das Zehnfache, von ca. 50000 auf ca. 5000, festzustellen. Die Zahl der Positivbefunde war zum Anfang des Sommers so gering, daß Gesundheitsminister Spahn bereits auf die Gefahr hinwies, Falsch-Positiv-Befunde könnten zu einer Überinterpretation der Fallzahlen beitragen: „Weil die Tests ja nicht 100 % genau sind, sondern auch eine kleine, aber eben noch eine Fehlerquote haben. Und wenn sozusagen insgesamt das Infektionsgeschehen immer weiter runter geht und sie gleichzeitig das Testen auf Millionen ausweiten, dann haben sie auf einmal viel mehr falsch-positive als tatsächlich positive.“ (in: „Bericht aus Berlin“ vom 14.6.2020)

Von Mitte Juli bis Mitte August 2020 zog die Zahl der (Falsch-) Positiv-Befunde wieder an, im übrigen synchron zur gesteigerten Testaktivität, mit der die Urlaubsrückkehrer willkommen ge­heißen wurden. Was geschah im selben Zeitraum mit der Zahl der wegen Covid-19 auf einer ITS behandelten Patienten? Diese Gruppe scheint aus dem Fokus der Medien beinahe vollkommen verschwunden zu sein, obwohl es doch ursprünglich vor allem um die ITS-Kapazitäten, so die Vorgabe, ging. Für den totalen Verlust an öffentlicher Aufmerksamkeit für die coronainfizierten ITS-Patienten ist ein triftiger Grund zu nennen: Ihre Zahl nimmt, ungeachtet der Urlaubsreisen und Schul­öffnungen, seit Mitte Mai stetig ab! Wir haben auf der einen Seite also in der zweiten Sommerhälfte wieder moderat steigende (Falsch-) Positivbefunde, auf der anderen Seite kontinuierlich sinkende Coronafallzahlen auf den ITS. Der Quotient zwischen der Zahl der ITS-Patienten mit Corona und der aktiven Fällen drückt diesen Sachverhalt plastisch aus:

ITS vs aktive Fälle 2020_10_28

Abbildung: Verhältnis der Zahl der in Zusammenhang mit Covid-19 auf der ITS behandelten Patienten zur Zahl der aktiven Fälle in %  (Daten laut RKI).

Mit anderen Worten: das Corona-Virus hat seine epidemiologische Gefährlichkeit in den letzten Monaten stark eingebüßt. Obwohl es sich wieder zu verbreiten scheint (wenn es sich nicht um Meßfehler handelt), nimmt die Zahl schwerer Krankheitsverläufe ab. Dies bedeutet nicht, daß es im Einzelfall keinen schweren Verlauf geben kann. In der Summe treten schwere Verläufe jedoch viel seltener auf. Warum berichtet darüber niemand? Der beruhigende Kern dieser Erkenntnis geht unter anderem darauf zurück, daß die Zahl der ITS-Patienten eine recht valide Größe darstellt, repräsentativ für alle ITS und weitaus weniger fehleranfällig erfaßt wird als der Genomabschnitt, den wir seit Januar das neue Coronavirus nennen.

Warte : lausche : da

Manchmal möchte ich
Den Augenblick verlängern : laufe
Eine Runde oder zwei : schwimme
Warte : lausche : da
Dringt sie ein : die Zeit
Sie bleibt nicht
Stehen : sie verflüssigt sich
In meinem Blut : kreist
Zwischen Herz und Hirn
Im Sitzen trete ich
Den Wettlauf an

Langsam gewinnt

Featuring : Josif Brodskij : Von der Landschaft

für Girolamo Marcello

Die Sonne geht unter, und die Bar an der Ecke ist dicht.

Die Laternen gehen an, haargenau ihre Augen schminkt so eine Mime
mit der lila Farbe für Schönheit und Grauen.

Kopfschmerz fällt am Fallschirm aus dem dunkelblauen
Raum zielgenau auf die Stirn des Feindes aus dem Stall Pirelli.

Und zwei Tauben im Gesims des Palazzo Minelli
vö.eln in den letzten Strahlen des Gestirns,

achtlos planschend in der Dünung des Hirns
wie unsere griesgrämigen Vorfahren unter vorsintflutlichen
Umständen, ganz ähnlichen zu heute und hier, vermutlich.

Das sind Schläge einer Glocke, vom Glockenturm purzeln
frei in den venezianischen Himmel Wurzeln,

haargenau fallende, zielbewusst wandernde
nie den Boden erreichende Früchte. Gibt es ein anderes

Leben, so wird in ihm jemand damit befasst sein,
diese Dinge zu sammeln. Und ich darf gefasst sein,

all das bald zu erfahren. Hier, wo so viel Entzücken
seinen Samen vergossen, Tränen des Glückes

und des Weins, an einer Ecke irdischen Paradieses
stehe ich am Abend, sauge diese

herbstlich-winterliche, lungengummiartig schwellende
saubere, sich von Dachziegelrot erhellende

hiesige Luft ein, von der,
wer sie atmet: braucht mehr.

Mehr und mehr – hinterher! vom Duft
sich aus Lebenszellen befreiender Luft,

sich befreiend von Zeit. Wälzt haargenau Geld um,
leckendes Wasser macht diese Welt stumm

mit seinen Azuranteilsscheinen am Palazzo, wofür es als Wechselgeld
einen zerfressenen Stein erhält

mit seiner Dermatitis
und eine bröckelnde Karyatide, die

sich den Sprechapparat mitsamt seiner Zigarette
auf ihre Schultern bettet

und, schwer in Vogel-Wahrnehmung eingetaucht,
seit sie im nach außen gewendeten Schlafzimmer raucht,

von des Anstands Sitte befreit ist,
mal aussieht wie jemand, der bereit ist,

mal – wie ein um den Verstand gekommenes römisches
Zahlzeichen, mal – Verszeilen handgeschrieben und Geflüster, böhmisches.

Herbst 1995
Casa Marcello

Tante Hilde oder Alle sind verdächtig

Tante Hilde in Gelb oder Alle sind verdächtig
[Anfang einer] Krimisatire

 

1

Es sind die letzten Wochen der Krise, der Krise des Krieges, den wir begonnen haben und der schon lange währt. In diesen letzten Wochen scheint die Sonne so eifrig, wie Preußen es lange nicht gesehen hat, und die Hauptstadt ist blüten- und bombenüberzogen, wunderschön, voller Wunden, viel mehr Wunden verschuldend an anderen Enden der Welt und schön, dass es der Frühling ist, der sie – die Stadt und das Reich, das sie zum Wahnsinn bringt – in den Anfang des Untergangs stößt.

So sehr blitzt die Sonne, so wolkenlos ist der April, scharf wie ein Schwert fährt der Himmel in die Praxis und meine Tante Hilde – Dr. Hilde Kampf – lässt die Klapperjalousie herunter, damit sie besser in Himpis Mund schauen kann. Falls das Licht sich nämlich in ihrem kleinen runden Zahnarztspiegel bricht und ihr ins Auge fällt, muss sie selbiges zukneifen und dann verschiebt sich der Fokus, dann beginnen die kleinen Viecher zu tanzen in Himpis Rachen, die sie eben noch versucht hat zu streicheln. Zum Zweck der Narkose, wie sie Himpi beruhigt und belügt. Narkosemittel sind an der Heimatfront nicht mehr vorhanden und Himpi hat sowieso Angst vorm Zahnarzt, deswegen kommt er zu ihr. Streicheln muss sie die Tierchen, um in Wahrheit unauffällig einen Abstrich von ihnen zu machen, den ihre Freundin – meine Oma – nachher mitnehmen kann ins Gesundheitsamt oder das, was davon noch steht. Hoffentlich kommt der Abstrich noch vorm Untergang ins Labor.

Ein Labor, ein Labor, ein eigenes Labor…

Gleich ist es vorbei, sagt Tante Hilde, ich nehme jetzt die Zange – sie hält Himpi die Zange vors Gesicht, das hat er bestimmt gern -, greift entschlossen den zerfressenen Zahn und zieht ihn mit einem Ruck raus.

Bevor Himpi wimmern kann, brüllt er bereits.

Hilde ist eine sportliche Frau von 35 Jahren, die im weißen Tennisrock durch ihre Praxis turnt. Die roten Wangen glühen bei dem Kraftakt und das männertreublaue Oberteil steht ihr famos. Doch das kann Himpi nicht sehen. Er kneift die Augen zu vor Schmerz und brüllt noch nach, dann fängt er an zu weinen wie ein Kind, das hingefallen ist, hält wieder den Mund auf, damit Hilde die Wunde reinigt und desinfiziert.

Streicheln, so so, murmelt Himpi danach.

Wir hätten doch das Cocain nehmen sollen, mein Himpi, aber Sie wollten ja nicht. Früher hat man es so gemacht, es funktioniert einwandfrei und die Nebenwirkungen kann man vernachlässigen. Das Bisschen Abhängigkeit…

… ist sowieso schon vorhanden, ergänzt Himpi und hat seinen knarzenden Tonfall wiedererlangt. Er legt sich das schweißfettige Haar quer über die Stirn und streicht sich das Blut aus dem Bärtchen. Ich werde Ihnen für den Rest meines Lebens dankbar sein. Also nicht mehr sehr lange. Bitte bezeugen Sie meinen Mut.

Sie müssen in einer Woche wiederkommen, ich muss die Wunde noch einmal sehen.

In einer Woche, da bin ich schon tot, sagt Himpi glasig.

Ach was, wenn der Feind erst besiegt ist, nehmen wir uns den anderen Zahn vor.

Sind Sie verheiratet?

Das hat noch Zeit.

Aber ich werde heiraten, Fräulein Dr. Kampf, und zwar schon bald. Ich habe nämlich – sagen wir so – keine Zeit mehr.

Gratuliere, sagt Hilde ohne Bedacht.

Sie können es sich wahrscheinlich nicht vorstellen, aber ich bin sehr sentimental, jedenfalls wenn es um mich geht. Ich fühle mich nahe dem Tod.

Tante Hilde verspürt einen Brechreiz und wirft den blutigen Zahn in den Eimer.

Sie werden uns doch jetzt nicht verlassen, sagt Hilde automatisch; dabei streift sie unbemerkt Himpis Rachenextrakt von der Pipette.

Im Gehen sagt Himpi: Hunderttausend Tulpen wurden in Japan abgemäht, damit die Feinde kein Ziel haben. Als ob noch ein Flugzeug bis dahin fliegt.

Ihre Augen…, sagt Hilde, denn Himpi macht schon wieder ganz kleine Schlitze.

Sind trocken. Selbst wenn ich weine. Ich vertrage kein Licht mehr. Ich sehe Sie völlig in Gelb, Fräulein Doktor.

Das sind die Forsythien draußen vorm Fenster. Sie leben zu lange im Bunker, mein -!

Wiedersehen, sagt Himpi.

Der Mann ist ein Wrack, denkt Hilde und es zieht sie zu dem Reagenzglas. Sie nimmt das Glas hoch, schaukelt es ein wenig, öffnet das Fenster, um im Gegenlicht die unbestimmbare Mitte in der klareren Flüssigkeit besser zu sehen. Wer wenn nicht Himpi hat den Infekt? Der Mensch mit den schlechtesten Immunkräften, der am ungesündestes lebt, derjenige, der die größte Schuld auf sich geladen hat, infolgedessen der angegriffenste Mensch überhaupt? Der noch dazu konsequent seit Jahren im Dunkeln lebt und sich von Kartoffelbrei ernährt. Es könnte die Wunderwaffe sein, aber das hier im Glas ist Himpis Schnodder. Hilde ist gar nicht an Waffen interessiert und auch nicht an Himpi. Hilde ist Zahnärztin, sie hält die Stellung für Notfälle in schlimmster Zeit, und Infektionskrankheiten sind ihr Hobby.

Ein detektivisches Hobby, das sie mit meiner Oma teilt seit der Zeit, als sie zusammen die Sanitätsausbildung machten. Ein Hobby, das Hilde im Geheimen betreibt, damit es ihr nicht entrissen, damit ihr leidenschaftliches Interesse für die Wissenschaft nicht ein Raub des Krieges wird. Infektiologie geht über einzelne faulige Münder hinaus und betrifft das Wohl der ganzen Menschheit. Meine Oma, die als Angestellte des Gesundheitsamtes sowieso verstrickt ist in Politik, sieht die Dinge ganz nüchtern. Wir sind die einzig wahre Hygienepolizei, du und ich, sagt sie. Alle anderen verstehen jetzt etwas Entartetes darunter. Entartet, sagt meine Oma, ist die Hygiene.

Tante Hilde öffnet ihren Privatschrank und nimmt eine Gasmaske heraus. Das gute Stück aus dem vorigen Krieg gehörte ihrem verstorbenen Vater und liegt jetzt wieder griffbereit, denn die herabfallenden Bomben könnten auch kurz vor dem Ende noch giftgefüllt sein. Sie zieht den Rüssel über, denkt nach, ob sie die Sprechstundenhilfe schon in den Feierabend geschickt hat, dann fällt ihr ein, dass die Assistentin zu ihrer Mutter nach Bayern gefahren ist. Hilde befällt eine seltene Beklemmung. Ihre eigene Mutter ist weit weg in Amerika, und hier gibt es niemanden, der sich um sie kümmert und niemanden, der sie am Ende des Tages vermisst. Hier ist angeblich die Heimat, aber was heißt das? Man kann alles noch so gut organisieren, noch so gut kontrollieren, man kann der Assistentin all die Tage frei geben, die sie verlangt, am Ende ist man allein.

In die Gasmaske hat sie sich, zur Belustigung des ausführenden Optikers, statt der Augengläser ein Mikroskop einsetzen lassen. So kann sie unauffällig im Schatten des Zivilschutzes einen Rachenabstrich in Vergrößerung sehen. Der Gesichtskreis ist mit der Mikroskop-Maske allerdings sehr eingeschränkt, sie haut mit dem Rüssel das Reagenzglas fast um.

In diesem Moment stößt durch das halb geöffnete Fenster ein hässlicher schwarzer Tierkopf. Ein aufgerissenes Spitzmaul voll scharfer Zähne, darüber böse starrende Augen. Mit vernehmlichem Klatschen schlagen zwei sehnige, weit ausladende, belappte Arme oder Pfoten gegen den Fensterrahmen. Riesig ist das Geschöpf. Es weicht zurück, um einen weiteren Anflug gegen die Öffnung zu unternehmen und knickt dabei die Forsythien. In Hilde kommt Leben, sie rast mit hämmerndem Puls zum Fenster und schließt es, lässt sofort auch die Jalousie runter, um nichts mehr zu sehen. Das riesige Tier, das in ihre Praxis eindringen wollte, war eindeutig eine Fledermaus.

Von Adrenalin durchflutet, stellt Hilde endlich das Reagenzglas in den Schrank. Sie setzt sich auf den Rand des Behandlungsstuhls und sinkt in die Lehne, schließt die Augen hinter der Maske, öffnet sie aber gleich wieder, denn meine Oma steht in der Tür, ebenfalls mit einer Gasmaske vor dem Gesicht, neueres Modell. Hilde kann die Freundin im Moment hauptsächlich hören.

Warum ist die Haustür auf? fragt meine Oma.

Himpi war da, sagt Hilde tonlos so als sei das eine Erklärung. Und nicht nur er. Was hast du da auf dem Kopf?

Das Neueste vom Amt. Manchmal können sie was. Es ist schick, oder?

Die Freundinnen schauen sich durch die Gasmasken an, Hilde beginnt zu zittern und Grete beugt sich über sie und nimmt sie fest in den Arm.

Du arbeitest zu viel, dann diese Krise… Und obendrein Himpi… Kommt er wieder?

Ich habe seinen Abstrich. Du solltest dich freuen, dass er mich für die beste Zahnärztin der ganzen Stadt hält.

Oh, das tue ich! sagt Grete. Ich nehme den Abstrich mit, und morgen früh geht das Glas ins Labor.

Ich überlege, ob ich es nicht selbst ins Labor bringen sollte, jetzt gleich, und zwar in das andere.

Hilde schiebt Grete beiseite und nähert sich vorsichtig dem Fenster. Sie hebt die Jalousie ein wenig hoch. Auf dem Fensterbrett summt eine große Fliege, auf dem Rücken, die gekrümmten Beine nach oben.

Das Heeresgasschutzlaboratorium?

Wir haben dort neue Kontakte.

Grete zieht fragend die Augenbraue hoch. Was für Kontakte?

Diskrete, seit vorgestern. Es war eine kleine OP, ich habe den Mann selber auf dem Motorrad wieder zur Arbeit gefahren. Englischer Akzent, stell dir vor.

Grete seufzt: Der Spion, den sie liebte!

Im HGSL sind sie ausgestattet mit allem. Er hat sich sein eigenes Betäubungsmittel mitgebracht. Das war klug, denn einen Mann unter Schmerzen kann man nicht küssen. Ich bin sicher, er wird den Test für uns auswerten. Und dann beweisen wir: Himpi ist infiziert.

Hilde, du solltest das Küssen jetzt lassen. Es ist nicht die Zeit dafür.

Doch, doch, es ist eine wunderbare Zeit. Wenn du küsst, bist du glücklich und du bist immun. Es ist Frühling, du musst dich verlieben.

Hilde hat sich wieder gefangen, die Fledermaus ist aus ihrem Hirn. Mit Sex kann man sich schützen, erklärt sie.

Ich bringe die Probe ins Gesundheitsamt, sagt meine Oma sachlich.

Nein, ich bringe sie ins HGSL.

Es ist die Probe von Himpi, erwidert meine Oma jetzt etwas scharf. Darauf habe ich ein Anrecht. Ich verfüge es hiermit, ich beschlagnahme sie. Zuwiderhandlungen werden geahndet.

Hilde lacht. Sie lacht und lacht und dann lacht auch meine Oma. Die Freundinnen und ihr Hobby und die Männer und der Krieg. Sie fahren gemeinsam mit der BMW durch die Spandauer Neustadt, Hilde vorn, meine Oma hinten mit dem Schild um den Hals „Hygienepolizei“.

Der englische Liebhaber ist sehr charmant. Er bittet die Damen zum Tee, auf dem Rasen vorm Eingang zum Heeresgasschutzlabor, das eigentlich Heeresgiftgaskampf- und versuchslabor heißen müsste. Das Labor liegt innerhalb der Mauern der Zitadelle, Berlins Trutzburg der Renaissance. Angreifende Truppen hat das Bauwerk schon viele gesehen, und vor Bomben ist man jetzt sicher, gerade weil es hier so explosiv ist. Drei Stühlchen werden aufgestellt. Der Engländer küsst Tante Hilde leidenschaftlich und lange, trotz Infektrisiko. Er gibt ihr noch etwas Rizin mit, „for emergency“. Im Labor wird es nicht mehr gebraucht, sie haben ja Sarin und Tabun und Zyklon B und er möchte den Rizinrest sinnvoll verschenken. Der Engländer hält Himpi für einen Feigling, versteckt er sich nicht seit Jahren in den ostpreußischen Wäldern? Bei Wildschweinen und Rehen, samt seiner Kommandozentrale? Grete ist pikiert über die Küsserei aber auch etwas erregt. In ein paar Tagen gibt es Himpis Ergebnis. Viele Grüße an deinen Mann, flüstert Hilde der Freundin beim Abschied ins Ohr.

 

2

In den nächsten Tagen füllt sich die Praxis. Hilde kann nicht anders, sie streift nachts durch die Straßen, die dunkel sind, Restaurants, Kneipen, Kinos, Theater, die Läden, alles geschlossen. Sie liest die Leute vom Gehweg auf, und wenn sie nicht laufen können, kommt sie noch einmal gefahren. Es gibt Menschen, die wohnen in zwei Büschen, um einen Infekt haben sie sich noch niemals gekümmert. Als Grete die Freundin wieder besucht, sind das Wartezimmer, das Privatzimmer und ein zweiter Behandlungsraum provisorisch belegt. Es riecht ungut. Alles Zahnarztnotfälle, entschuldigt sich Hilde.

Meine Oma schüttelt den Kopf, denn das Infektrisiko steigt, mittlerweile auch für Hilde selbst. Seit Hilde ausgebombt ist, wohnt sie in der Praxis, jetzt hat sie ihr Feldbett in der Teeküche aufgestellt. Schmutzige Handtücher an einer Leine schirmen sie ab vor den Blicken. Grete glaubt, die knurrenden Mägen der Männer zu hören, aber Hilde sagt: das Haus hält zusammen, jede Etage kocht an einem anderen Tag. Und wenn der Untergang kommt, bin ich nicht allein.

Die beiden Freundinnen düsen mit dem Motorrad Richtung Juliusturm. Die Zitadelle liegt rotschimmernd unter strahlendem Licht, und da die Sonne nicht so hoch steht wie im Sommer, werfen die Bäume irritierende Schatten. Die Frauen warten am Eingang. Der Engländer kommt nicht.

Stattdessen kommt ein Deutscher. Mit ihm zieht ein kalter Hauch aus dem Gewölbe. Der Deutsche zeigt auf meine Oma. Sie sind vom Amt, sagt er. Ich habe einen Auftrag für Sie, streng vertraulich.

Bitte nicht, sagt meine Oma.

Sie müssen dies hier nach Adlershorst bringen.

Er drückt meiner Oma ein Behältnis in die Arme, in dem etwas lebt. Durch kleine Schlitze hört man es flattern. Meine Oma guckt zweifelnd. Sie soll einen Vogel durch den Krieg tragen? Erklärungen sind nicht zu erwarten.

Adlershorst? fragt sie. Wo ist das?

Aus der Stadt Richtung Osten, in der Nähe von Falkenhagen. Sie werden es finden, wenn Sie dort sind. Es handelt sich um Informationen.

Bitte nicht Richtung Osten, sagt meine Oma leise. Ich komme gerade aus Posen, vor der anrückenden Armee sind wir geflohen, meine Tochter und ich. Wir haben es nur geschafft durch den Pferdewagen, und den hatten wir nur, um das Eugenik-Archiv zu transportieren.

Sie werden es schaffen, einer allein kommt immer durch, besonders die Frauen, schnarrt der Forscher. Also: Adlershorst, bei Falkenhagen.

Bitte, ich bin Mutter, ich habe ein Kind…

Die Welt ist voll von Kadavern, ich meine, Kavalieren, das haben Sie doch sicher gemerkt, sagt der Mann. Nur diesen Kasten, den verlieren Sie nicht!

Grete guckt, als wäre ihr Kopf in dem Kasten, verlorene Freiwillige in einem magischen Zirkus.

Und was ist mit dem Testergebnis? ruft Hilde.

Aber der Deutsche ist schon wieder weg und die Stahltür verschlossen.

 

3

Wir hätten Himpi sowieso mehrmals testen müssen. Wenn er heute nicht positiv ist, dann vielleicht morgen? Dieses Testen… ich glaube, um ehrlich zu sein…, wenn es eine Epidemie ist, dann geht es nicht nur um Himpi.

Die Frauen schweigen betroffen. Abwesend sagt Hilde: Schade um den Engländer, er war so britisch. Zwei Dinge haben wir bekommen, das Rizin und die Fledermaus. Das eine hat uns ein Engländer gegeben, das andere ein Deutscher. Das muss etwas bedeuten.

Eine Fledermaus? Bist du sicher?

Um das Tier wirst du dich kümmern. Und ich… um das Rizin.

Ich werde mich um das Tier nicht kümmern, sagt meine Oma rigoros und so gefällt sie Hilde am besten, auch wenn sie ihr widerspricht. Ich werde mich um dich und mich und meinen Mann und meine Tochter und eventuell um deine Zahnarztnotfälle und um das Archiv kümmern…

Ach ja, das Archiv.

Aber was immer in diesem Kasten ist, ich lasse es fliegen. Und Grete steigt aus dem Behandlungsstuhl, dem einzig freien Platz in der Praxis.

Auf keinen Fall, sagt Hilde und stellt sich vor die Forsythien ins Fenster. Im Namen der Wissenschaft: die Fledermaus birgt Informationen! Welche geheimen Informationen produziert das HGSL sonst außer Gift? Die Fledermaus ist wie Himpi, sie ist wahrscheinlich infiziert, aber nicht erkrankt. Und wie Himpi ist sie hochinfektiös.

Ich verstehe es ehrlich gesagt nicht, sagt Grete kleinlaut. Warum ist sie hochinfektiös? Es hat sich doch noch niemand angesteckt.

Du hast deinen Robert Koch nicht gelesen! sagt Hilde streng.

Falls nicht nur Himpi einen Infekt hat, und das ist anzunehmen, brauchen wir viel mehr Daten, Daten in Standard und Qualität. Statistik ist die Realität des Regierens, sagt meine Oma.

Allerdings, das ist logisch. Die Frauen schweigen.

Ich werde mich in Zukunft darum kümmern, sagt meine Oma. Aber mit Himpi sollten wir anders verfahren.

Sie schweigen erneut.

Was wollen sie mit diesem Tier in Adlershorst? Dort wird es ein geheimes Labor geben und sie werden sie untersuchen. Keine Ahnung mit welchem Ziel.

Doch! Hilde reißt die Augen auf. Sie testen die Infektion an Menschen, und wenn die armen Probanden krank werden, ist die Wunderwaffe gefunden. Die Fledermaus fungiert dann als Viren- oder Bakterien-Gefäß.

Das tun sie doch längst.

Was?

Menschen infizieren, sagt meine Oma ruhig. Das weißt du. Seit vielen Jahren.

Hilde guckt irritiert. Also… die Fledermaus… Es muss sich um eine besonders ansteckende, besonders verheerende Infektion handeln, die die Fledermaus transportiert. Eine, die man in den letzten Tagen des Krieges entscheidend in Stellung bringen kann.

Wir können die Fledermaus ignorieren, sagt meine Oma. Wir lassen sie sterben in ihrem Kasten und graben sie ein.

Wir sind leider schon mitten im Krimi, sagt Hilde. Ignorieren geht jetzt nicht mehr.

Und das Rizin? Soll ich es aufbewahren, damit nichts Schlimmes passiert?

Was soll denn noch Schlimmeres passieren? Weißt du was? Wenn Himpi wiederkommt, und angemeldet ist er für morgen –

Dann?

Ach nichts. Wir werden sehen.

Die Freundinnen verabschieden sich fahrig.

 

4

Tatsächlich dauert es noch einige Tage, bis Himpi wieder erscheint. Inzwischen hat meine Oma ernst gemacht mit der Datenerhebung und Hilde testet, wo immer sie kann. Die Zahnarztnotfälle werden der Reihe nach behandelt und jedesmal kitzelt sie die Patienten zufällig am Gaumen. Das könnte Hildes Markenzeichen werden, man lacht schon darüber. Hilde mikroskopiert nun auch selbst, denn wozu hat sie die umgearbeitete Maske? Das Heeresgasschutzlaboratorium ist zu gefährlich, und aufgeben ist keine Option. Sie arbeitet den ganzen Tag, und meine Oma lässt abends ihre Tochter allein, um neue Notfälle von der Straße zu rauben. Morgens, gleich wenn sie aufsteht, schaut Hilde ins Wartezimmer: da liegen sie über- und nebeneinander. Alle sind verdächtig, sagt Hilde befriedigt und zieht sich den Tennisrock an.

Meine Oma residiert im stickigen Flur und fragt die Menschen nach Beruf, Familienstand, Alter, Krankheiten, aber nicht nach der Gesinnung. Sie hat ein Formular erfunden und füllt für jeden eines aus. Es betrübt sie, dass alle Test-positiv haben. Aber das liegt natürlich am schnöden Leben.

Wer weiß, ob sie überhaupt die Wahrheit sagen, wenn du sie befragst, sagt Tante Hilde.

Sie trauen mir, sagt meine Oma. Sie freuen sich, dass sich jemand für sie interessiert. Das sind arme Leute, sie sind allein, haben die Orientierung verloren, manche sagen gar nichts, denn sie sprechen kein Deutsch.

Das meine ich, sagt Tante Hilde.

Geh in dein Labor, sagt meine Oma verärgert. Mach deine Arbeit und ich mache meine.

Jetzt sollten wir ihnen die Wahrheit sagen, sagt meine Oma, als nach drei Tagen die Praxis so voll ist, dass man nicht mehr atmen kann. Dass sie infiziert sind, und dass sie gehen müssen, und dann kommen die nächsten. Ich finde heraus, wie viele wir für unsere Studie benötigen, ich weiß aber noch nicht, wie lange wir brauchen.

Gehen? Wo sollen sie denn hin?

Ja, wohin… Sie können zu mir, sagt Grete dann mutig. Vielleicht ist es ja nicht so ansteckend. Ich denke, die Fledermaus wäre viel ansteckender.

Die Fledermaus!! Die Frauen sehen sich entgeistert an. Die Fledermaus haben sie völlig vergessen. In diesem Moment klopft es und eine bekannte Stimme knarzt durch die Tür.

Fräulein Kampf, ich bin es!

Einen Augenblick! ruft meine Oma schrill und scheucht die zerlumpten Gestalten aus dem Flur. Wie es hier riecht. Wie sauer gegoren und nass zusammengelegt, wie modrig geschrubbt und nicht richtig abgewischt mit Toilettenpapier. Die Leute müssen sich in den zwei Zimmern und der Küche zusammendrängen, da ist jetzt nichts zu machen. Tür zu und Ruhe, verdammt! Himpi, du liebe Güte…

Ist da noch jemand? fragt Himpi. Ich dachte, ich hätte jemanden gehört.

Wir sind ganz für uns, mein -, sagt Hilde zuvorkommend und bugsiert Himpi flott ins Behandlungszimmer und auf den Stuhl. Sie schließt schwungvoll die Tür, aber öffnet das Fenster, denn dass es schlecht riecht, sieht sie Himpis gekräuselter Nase an. Himpi ist sehr empfindlich.

Erstmal die Wunde, sagt Hilde freundlich.

Himpi öffnet den Mund.

Sehr schön. Und nun – nehmen wir uns den anderen Zahn vor.

Himpi schließt seine Öffnung. Ich glaube, es lohnt nicht mehr, Fräulein Hilde, flüstert er ängstlich.

Herr Himpi, Sie wollen doch nicht mit Zahnschmerzen sterben, sagt Hilde bestimmt. Ich habe außerdem – ein neues Narkosemittel.

Hilde erschrickt plötzlich vor sich selbst. Da Himpi mehrere Tage zu spät zum Termin gekommen ist, hat sie ihren Plan fast vergessen. War es denn ein Plan? Tatsächlich ist sie nicht vorbereitet. Aber kann man denn auf alles im Leben vorbereitet sein?!

Einen Moment, ich muss es nur holen… Hilde kramt nervös in ihrem Privatschrank. Da ist die Dose. Der Engländer fällt ihr ein und wie er sie küsste. Hilde wird es ganz warm.

Als sie sich umdreht, prallt sie zurück. Himpi ist aufgestanden und steht dicht vor ihr.

Ich möchte lieber nicht, sagt er düster und schaut ihr auf die Schulter.

Das kann ich verstehen, sagt sie. Aber es tut immer nur weh, wenn man Angst hat.

Ich habe Angst, sagt Himpi und lässt sich sanft wieder setzen.

Jetzt muss Hilde die Strategie wechseln. Das muss sie in der folgenden halben Stunde noch öfter.

Tatsächlich ist es so, sagt sie, dass Sie vor der Behandlung weniger Angst haben müssen als vor der Narkose. Die Narkose ist neu, ein neues Mittel. Wenn wir es an Ihnen ausprobieren, könnten Sie zum Helden für viele Verwundete werden.

Die Verwundeten sind mir egal, murmelt Himpi. Also… Wenn es nicht funktioniert, dann tut es halt weh, und wenn es funktioniert, dann merke ich nichts?

Möglicherweise wird Ihnen etwas schlecht. Aber das dauert höchstens drei Tage.

Wissen Sie, ich finde, sagt Himpi plötzlich heftig, dass Sie diese Experimente an denen machen können, die dafür vorgesehen sind. Das habe ich doch alles geregelt. Wozu gibt das lebensunwerte Leben? Damit man es vernichten kann. Aber doch nicht mich, bitte.

Es geht doch nicht um vernichten, Herr Himpi.

Schon gut, schon gut. Meinetwegen. Aber bitte: bezeugen Sie meinen Mut!

Frau Doktor Kampf, meine Tante, rückt nun vor. Zurück geht es nicht mehr, es ist begonnen. Der Untergang nimmt seinen Lauf.

Wie heißt das Mittel? fragt Himpi. Und kennen Sie die Dosis?

Es heißt… Zirin, antwortet Hilde.

Himpi seufzt. Vielleicht lebe ich ja doch noch länger. Wer weiß. Und dann lohnt sich das Leiden. Fräulein Kampf, vielleicht haben Sie Recht.

Hilde lächelt und Himpi lächelt jetzt auch. Es ist das erste und letzte Mal, dass beide so lächeln.

Hilde wird nun leider beinahe zu kühn. Es treibt sie der Teufel, ich glaube, es hat mit dem Engländer zu tun, dass er fort ist, nicht mehr da. Was haben sie mit ihm gemacht, ihrem kühlen Spion? Hilde sagt betont lustig: Nach dem Gesetz, das Sie erlassen haben, ist – mit Verlaub – Ihr eigenes Leben nichts mehr wert.

Was? macht Himpi entgeistert.

Sie vegetieren dahin, Ihre Haut ist Papier und Sie haben die Hoffnung verloren.

Himpi schnappt nach Luft, aber Hilde ist noch nicht fertig.

Sie werden sterben in ein paar Tagen, das ist gewiss. Eine Behandlung ist daher nicht mehr angezeigt. Auch wenn Sie die schlimmsten Schmerzen hätten, ich könnte Sie getrost verrecken lassen, denn Sie haben vor sich selbst zu töten. Um sich nicht verantworten zu müssen, habe ich recht?

Himpi zuckt mit allen Wimpern. Ich werde Sie liquidieren lassen, krächzt er.

Aber Herr Himpi! Warum sind Ihre Zähne so schlecht?

Wie bitte? Himpi ist total überfragt.

Das erste Zeichen mangelnder Verantwortung sind die eigenen fauligen Zähne. Ich werde Ihnen diesen Zahn ziehen, sonst kommen Sie niemals zur Ruh.

Nie zur Ruh -, Himpi liegt jetzt auf dem Rücken.

Hilde beugt sich über seinen grässlichen Rachen. Noch nie hat sie so viele Tierchen herumlaufen sehen, all die Toten, Verwundeten, Vergasten, Verstümmelten, Gefolterten, Ermordeten, sie alle gehen in Himpis Rachen spazieren.

Hilde sticht hinein, in der Spritze ist Rizin.

Aua, macht Himpi.

 

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Es war also nicht so, wie Hitlers Sekretärin erzählt, dass Hitler sich selbst umgebracht hätte, und es war auch nicht so, wie sein Chauffeur berichtet, der ihn nach seinem Sicher-ist-Sicher-Doppelselbstmord – erst vergiften, dann erschießen – verbrannt haben will. Meine Oma sagt immer, dass Himpi vielleicht nur bis zu den Forsythien kam. Denn Hilde erzählte, dass es ihm sofort sehr schlecht ging, den Forsythien in den Folgejahren aber sehr gut. Himpi wankte nach der Behandlung aus der Praxis, vorgeschädigt wie er war, und brauchte vielleicht nicht so lange wie andere, um dem Rizin zu erliegen. Normal sind drei bis vier Tage, sagt meine Oma. Die könnte er natürlich noch in der Reichskanzlei verbracht haben. Theoretisch ist es möglich, dass er sich trotz der tödlichen Dosis, von der er nichts wusste, zusätzlich selbst vergiftete und auch noch erschoss, meinetwegen. Aber es gibt nichts daran zu deuteln, sagt meine Oma, dass es Hilde war, die für die amtliche Sicherheit dieses Todes verantwortlich ist. Und dabei ist es egal, ob Himpi die letzten Tage in den Forsythien oder in den Armen von Eva Braun verbracht hat. Der Stoff, den der Engländer Hilde gab, war ganz ausgezeichnet.

Meine Oma war später auf Hilde sehr stolz, denn es ist doch ein Unterschied, ob irgendwem noch ein Anschlag auf Himpi gelang oder ob erst der Untergang kommen musste. Besser ein gelungener Anschlag einer Zahnärztin als misslungene Anschläge von Generälen. Tante Hilde hat niemals Berühmtheit erlangt; die andere Schlussversion war bald in der Welt. Offenbar hatten die Freundinnen kein Interesse, als Hitlers Verderberinnen in die Annalen einzugehen. Der große Verdächtige war weg, die Ansteckung durch den Infekt entscheidend gemindert. Das war es, was für sie zählte.

Wie ich das fand? Nun, meine Oma, die in den nächsten Stunden noch Kriegswitwe wird, hatte keine Zeit, Zeitzeugin zu werden, erklärte sie mir. Und Hilde hätte sich ja selbst melden können beim Heldenregister. Aber das tat sie nicht und als ich sie kennenlernte, war sie schon eine betagte Dame mit einer riesigen Brille und dunkelbrauner Perücke. Sie trug lila Kostüm, saß bei meiner Oma im Wohnzimmer, trank Kaffee und Likör, meine Oma hatte Kuchen gebacken und von Hitler war niemals die Rede. Um ehrlich zu sein, ich glaube, Tante Hilde hatte ihn völlig vergessen.

Jetzt aber, April `45 – Himpi ist raus aus der Praxis, die Meute in den Nebenzimmern, deren Anwesenheit Hilde vielleicht ermutigt hat, quillt wieder auf den Flur – ist Grete damit beschäftigt, die Leute mit einer warmen Mahlzeit abzuspeisen. Eintopf mit Speck! Sie schleppt den dampfenden Kessel aus dem oberen Stockwerk, über die Treppe hinunter und durch die Praxis zum Herd. Niemand fragt nach dem hochrangigen Gast, der vorhin ungesehen kam und wieder ging. Es riecht gut, und im Moment haben alle nur Hunger.

Da Grete mit so vielen Verdächtigen in Berührung kommt, was sich gar nicht vermeiden lässt, möchte sie zur Sicherheit auch endlich getestet werden. So viel Zeit muss sein. Hilde verschwindet mit Gretes Abstrich im Labor, das heißt sie setzt sich im Behandlungszimmer die Gasmaske auf. Sie starrt auf den Speichel im Reagenzglas und lehnt den Kopf zwischendurch schwer an die Wand. Sie hat Himpi vergiftet. Etwas muss jetzt geschehen, auch wenn die Gegenwart zäh und dickflüssig ist vor lauter Problemen. Etwas Suppe schwimmt darin. Was sie sieht: Grete ist positiv.

Du musst weg, sagt sie zu Grete, die neben ihr steht.

Aber die Meute ist auch noch da.

Dann muss ich weg und ihr bleibt, in Quarantäne.

Wie soll das gehen… Und wie kannst du sicher sein, dass du nicht auch positiv bist?

Einer muss den Maßstab bilden, sagt Hilde verärgert. Aber meine Oma ist eisern, und positiv sein muss man erstmal verdauen.

Bei so vielen Infizierten unter deinem Dach besteht vom Amts wegen höchster Verdacht, sagt sie strikt.

Grete, ich habe jetzt andere Probleme.

Was für schlimme Zeiten sind das, in denen es etwas Schlimmeres als Infektionen gibt! Wie schlimm sind diejenigen dran, die das Risiko nicht mehr interessiert! Andere Probleme, was soll das sein?!

Was für einen Infekt habe ich überhaupt?

Einen Infekt, irgendeinen, ich habe ihn gesehen, sagt Hilde gereizt. Genauer machen wir es nach dem Krieg, einverstanden? Du hast den Infekt, den alle jetzt haben, das liegt auf der Hand.

So, macht Grete und ist nicht zufrieden.

Ich bin negativ und ich bin beweglich, sagt Hilde. Ich klemme mir die Fledermaus auf das Motorrad und bringe das Tier nach Adlershorst. Dann ist dein Auftrag erfüllt, du wirst nicht suspendiert. Und ich werde nicht von Himpis Braut gejagt, die ihn im Bunker vermisst.

Wenn die Fledermaus die Wunderwaffe ist, wirst du zum zweiten Mal berühmt, allerdings für die andere Seite, folgert Grete mit nachdenklichem Gesicht. Gerührt von Hildes Mut überlegt sie. Natürlich, Hilde und die BMW, dagegen käme der Pferdewagen nicht an. Der Grete außerdem sofort entrissen wurde. Meine Oma müsste ihr Fahrrad nehmen, wenn es nicht bei einem Brand geschmolzen wäre. Wenn Hilde, die Strahlende, Schnelle sich an ihrer Stelle ins Abenteuer stürzte, hätte die Mission viel eher Erfolg. Einverstanden, sagt Grete.

 

[Fortsetzung folgt]

umgehung

unbestrumpft abgebogen in die vertrauten gärten
voll der rosen kraftduftendem odem
springt flaneur träge zum wegrand hinüber
als vierrädrige staatsmacht
frech sich verirrt hat in dichters flur
grau überwölkte bewegung ist noch leicht
aus zu machen
im verzug
der eigenen courage liebevoll entsprungen
sucht
neues alte hauptstatt im langsam anhebenden takt
der djemben auf grünender wiese
unter bäumen
im zickzack hinweg und zurück
nach heftigem schauer auf rastbank in trance
lässt‘s klingen und hört bereits
was später tatsächlich gesungen

Wir sind alle

Amazonasbewohner, mehr
oder minder Traum
von Wasser oder Wasser,
das die dämmernden
Körper bewegt

Maschinenbauer und
perturbierende Stoff-
wechselzentren,
Organbesitzer und
Verlierer exklusiven Vertrags

Was sind wir noch?
Alles,
was die gefügte Ordnung
aufzulösen begehrt
und sein Begehren
fortwährend bedroht weiß

Körper und Denken
getrennt, eine Seele
aus Zweien,
die nicht weiß – woher
das alles und schon gar nicht:
wohin

Die unendliche Einsamkeit der Zahlen
auf dem Weg zu sich selbst
und über sich hinaus,
ihr Teilsein im
Überschaubaren, ihre ewige

Rätselhaftigkeit

Eine Karte im Gesicht
oder Gesichtslosigkeit,
Himmelsbegehren und
Sturzbacherzählung